
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Ich bin nostalgisch. Heute Abend steht eine dieser Veranstaltungen an, auf die man sich freut...Nein, Stopp! ; das kann ich besser, schließlich arbeite ich ja an mir. Also : Heute Abend steht eine dieser raren Veranstaltungen an, auf die ich mich wirklich freue, weil ich tolle Leute wiedersehen werde, die aus den üblichen zusammengewürfelten Gründen, wie "hab zu viel zu tun", "bin so selten in der Gegend" oder (mein liebster!) "hab´ noch dran gedacht Euch anzurufen" meinen Sicht- und Erinnerungsbereich dauerhaft verlassen haben und immer unregelmäßig, dann aber regelmäßig schlechtes Gewissen auslösend, auftauchen wie die untoten Seeleute in "The Fog - Nebel des Grauens". Klingt nicht gut... Liegt vielleicht auch daran, dass sie sich alle immer noch regelmäßig sehen, während ich seit annähernd zehn Jahren weggezogen bin. Seitdem ist viel passiert und auch eine Menge, was ich lieber unter den sprichwörtlichen Teppich, beste 1 Million Knoten als biologisch gefärbter Orient-Ziegler, kehren würde. Sie werden sicher schon alles über mich wissen und mich trotzdem interssiert danach fragen, um Aufmerksamkeit zu zeigen und die alten Zeiten mit mir zu reanimieren versuchen, wie ich damals den über 80-Jährigen auf Kassels Breitscheidstraße, der zwar wieder unter die Lebenden kam, aber kurz darauf im Klinikum dann doch verstarb. Würde ich so reflektieren, wie ich immer behaupte, wüsste ich spätestens jetzt, dass ICH hier der wiederkehrende untote Seemann im Nebel bin.
Nun ja, es gilt ein paar Stunden zu überbrücken, und eine gute Freundin (nicht zu verwechseln mit der jüngst erwähnten "alten Freundin") hat mir mal geraten, ausgedehnt intensiver Hausputz helfe hervorragend, wenn man etwas zu verarbeiten hat. Also beschließe ich, die eigentlich nicht sichtbar schmutzigen Fenster dann doch mal gründlich zu putzen. Aus der Surroundanlage dröhnt mein Kumpel Axl Rose ungefiltert mit der CD 2 der limited Edition von "Appetite for destruction" , schließlich sollen meine Nachbarn auch wissen, dass hier Großes geschieht, denn alle echten Fensterputzer (ausgenommen natürlich die außen an Hochhausfassaden elektrisch auf und ab fahrenden hauptberuflich spannenden Flitschenbeweger) wissen, dass nicht das schlierenfreie Fensterputzen, der regelmäßig vertikal praktizierte rhythmische Oberflächenreinigungstango, die eigentliche Arbeit ist, sondern das Befreien und Befüllen der Fensterbänke von und mit all den kunstvoll platzierten Stehrümmchen.
Ich schlage mich erschöpfend bemüht und wacker und arbeite mich von Raum zu Raum, was eine durchaus innerhalb eines Menschenlebens quadratmeterbegrenzt lösbare Aufgabe ist, es ist schließlich in meinem ehemaligen Hausmeisterhäuschen ja nun nicht so, dass ich mich vom Nord- in den Südflügel durchputzen müsste.
Umfangreicher ist allerdings dann der zweite Teil. Nachdem die Fenster - ich möchte ja sicher nicht übertreiben - die Frühlingssonne noch ein paar Lux heller erscheinen lassen und ihr Glanz sicher bis in die späten Abendstunden ausreichen wird, die elektrischen Laternen vor meinem Haus vorrübergehend zu ersetzen, beginne ich, die Bilder und -rahmen zu putzen. Hier bin ich dann zugegebenermaßen doch eigen, es ist penibelste Feinarbeit angesagt, darf doch kein Putzwasser unter das Glas des limitierten Lindenberg-Druckes kommen, keine Kratzer an die Chromoberflächen der highgloss-Nielssen-Leiste um die kunstvoll arrangierten antiken New York-Postkarten, keine zusammengewischte Staublinie den Blick auf die zertifiziert originale Filmrequisite aus "Hulk" stören. Es sind alles Unikate, hinter jedem steckt eine Geschichte und so kommt es wie es kommen muss. Ich stocke vor einem kleinen Rahmen mit großem Inhalt, einem Foto. Wer mich kennt, weiß, dass es fast keine Fotos von mir gibt, aber hier bin ich tatsächlich mit drauf, und es hängt deutlich sichtbar in Augenhöhe im Flur. Wo auch sonst, denn hier ist ER mit mir zu sehen, meine Inspiration aus Kindertagen, mein moralischer Kompass, mein Entertainer, meine Humorvorlage. Er begleitet mich, seit ich denken kann, in immer neuen Fernsehrollen, inspirierenden Kinofilmen, durchgeknallten Semi-Dokus. Ich verfolge seine wohltätige Arbeit, sein bewegtes Privatleben, soweit man davon weiß, und ich bin vermutlich der Einzige, der seine Musik liebt, heiß und innig mitsingt, soweit das überhaupt möglich ist. Und ich durfte ihn treffen. Mir war völlig entgangen, dass das jetzt schon knapp über ein Jahr her ist. Oder doch ERST ein Jahr? Es ist wahnsinnig viel passiert seitdem, eine sprichwörtlich magenumstülpende emotionale Achterbahnfahrt, und ich hasse Achterbahnen. Das war noch die gute alte Zeit, als alles in Ordnung war. War es das? Zumindest rannte ich da noch einer gewissen "Ordnung" hinterher, die jetzt so gar nicht mehr in mein Leben zu passen scheint und es vermutlich schon letztes Jahr nicht wirklich tat.
Er nahm damals an einer Convention in Dortmund teil. und neben vielen anderen bekannten und nicht mehr so bekannten Schauspielern war er natürlich das Highlight. Für 75,-€ extra (!) konnte man einen Fototermin mit ihm buchen, und ebenso natürlich buchte ich, ohne zu zögern. Ich erinnere mich an eine ewig lange Schlange von Menschen vor einem, mit professionellen Stellwänden abgetrennten, Bereich innerhalb der Dortmunder Westfalenhalle. Kontrollierte Ein- und Ausgänge, eine Zick-Zack-Menschenführungslinie wie am Schalter von Ryan Air vor dem Flug nach Malle zur Hauptsaison. Jeder Menge Security. Und wie ich dann eintreten durfte. Er saß in der Mitte auf einem Hocker, eine Assistentin platzierte den Fan neben ihm, "Klick" - der nächste bitte! Ein weiterer Assistent führte den Gast wieder von dort vorne weg und zur Seite, ein zusätzlicher Assistent zog ein Foto aus dem Drucker und händigte es dem verdutzten Fan auf dem Weg nach draußen aus. 75 Euro für fünf Sekunden und ein Foto, ein gutes Geschäft.
Er sprach natürlich mit niemandem, wie auch! Vor mir waren noch etwa sieben oder acht Andere. Vorn saß er. Tatsächlich. In echt. Noch sechs. Wie immer in Stresssituationen, fuhr meine Nervosität komplett nach unten, mein Adrenalin stellte alle Systeme auf "Überleben" ein, ich wachse dann in der Regel über mich hinaus. Noch fünf. Die Menschen wurden im Eiltempo an ihm vorbei geführt. Klick - 75,-€. Meine Sinne waren jetzt hellwach. Jetzt ließ sich gerade ein offensichtlicher Vollidiot breit grinsend mit Victory-Zeichen mit ihm fotografieren, als handle es sich um eine Imitation von Madame Tussaud, how dare you! Noch vier. Ein Typ in wirklich schlechtem Klingonenkostüm aus der "Next Generation" war nun dran, es stimmte nicht mal der Kontext, peinlich. Noch drei. Sollte ich irgendwas im Danny Crane-Stil sagen? Das wäre doch cool. Und ich war viel cooler als die anderen Kasper hier. Noch zwei. Oder sollte ich den Song "has been" zitieren? "riding on a roundchair..." würde toll passen und er hätte erkennen können, dass ich ein ECHTER Fan bin, der seine Songs kennt, ein cooler Typ wie er. Noch einer vor mir. Ich kriegte den Tunnelblick. Jetzt nix Blödes machen. Nicht stolpern. Aufpassen. Ich war dran. Es war scheinbar totenstill, um mich herum nahm ich jetzt nichts mehr wahr. Eine Hand stupste mich bestimmend hinter ihn, sein Blick war noch immer professionell lächelnd stur geradeaus in die Kamera gerichtet, er arbeitete hier. "Welcome to Germany!" sagte ich schließlich zu ihm, "great to have you here". Meine Stimme war dabei ruhig, fest und sonor. Ich legte alles aus meinem Repertoire hinein, was der Profi-Vertriebler im Karton mit der Aufschrift "wichtig!" finden konnte. Das war jetzt mein Moment, meine Chance, und ich wollte es richtig machen. Die folgende Sekunde dehnte und zog sich wie ein zu heißem Kaffee gekauter Hubba Bubba. Ich registrierte wie beide Assistenten, links und rechts von mir, mir gestresste Blicke zuwarfen, denn ich brachte gerade den Ablauf durcheinander. Da drehte er sich zu mir um, lächelte mich an und entgegnete mit seiner unverkennbaren Stimme "My pleasure!" . Klick. Mein Foto. Und ich hatte meinen unbezahlbaren Moment.
Wie immer hat Göttingens Nik27 diesen Fotomoment streng nach meinen Wünschen professionell eingekapselt, hinter UV-Schutz-Glas und versiegelter Chromleiste zumindest für die Dauer meines Lebens sicher verpackt, doch hier gab es zur Abwechslung mal keine extravaganten Wünsche von mir umzusetzen, es war perfekt, so wie es war und ist es noch. Ich habe lediglich, erstaunlicherweise wieder einmal , vom Hersteller in Schweden, ein kleines Schild zur Erinnerung anfertigen lassen, das seinen Weg ebenfalls unter das Glas gefunden hat. Ich hab es ja nicht so mit Terminen und Daten, wie alle wissen.
Da stehe ich nun mit meinem Fensterleder, sinniere vor mich hin und tropfe den Fußboden voll. Ja ich BIN abgelenkt. Erstaunlich, wie präsent jedes Detail dieses Tages noch ist.
Da fällt mir meine Mutter ein. Als ich ihr damals voller Stolz das Foto zeigte, sagt sie nur "Der ist aber klein!" Mütter können grausam sein, und ich grinse erleichtert.
Ich putze dann mal weiter, denke ich, bald muss ich los, schließlich bin ich heute Dr.Malcolm Crowe, Ihr wisst schon, aus "The sixth sense", klingt irgendwie
besser, als ein untoter Seemann ohne Namen zu sein. Ändert nur an der Lage nix, fürchte ich. Schauen wir mal, was der Abend bringt.