
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Karma is a bitch. Aber manchmal ist eine bitch genau das, was man braucht. Oh je, das könnte man jetzt auch falsch verstehen. Ich fang nochmal an. Eine gute Freundin von mir, eine 24 / 7 Weltenretterin unter Dauerstrom, Typ „Pferdestehler“, ein Mensch, der den Disneyklassiker „Bernhard und Bianca – Die Mäusepolizei“ vermutlich einst selbst mit der körperwarmen Muttermilch aufgesogen hat und auf die man sich bedingungslos verlassen kann, wenn sie nicht gerade jemanden anderes rettet, vorzugsweise mehr oder weniger mutterlose Katzen auf nächtlichen Bauhöfen der näheren Umgebung und, vermutlich in der ehrgeizgetriebenen Folge, irgendwann einmal in stinkend tiefe Gruben gerutschte, ahnungslose Pferde und orientierungsschwache Kühe, musste ungeplant ins städtische Krankenhaus. Mir ist nicht so ganz klar, was los ist, ich weiß nur, dass eine OP ansteht und mache mir etwas Sorgen, denn wer soll die Welt retten, wenn Supergirl Kryptonit abgekriegt hat? Außer Frage steht, dass ich gleich mal nach ihr sehe, denn erstens mache ich mir, wie gesagt, Sorgen und zweitens lässt sie sich natürlich selbst NIE helfen und dies ist eine der seltenen Gelegenheiten für mich, Ihr mal was Gutes zu tun, so als ob man „The Flash“ zwischen zwei Läufen zu fassen kriegt.
Also wird der strukturierte Teil von mir aus dem Dämmerschlaf geholt, und ich schiebe, strecke, kürze und verlege kurzfristig Termine und Gespräche, schaffe mir ein kleines Zeitfenster und dackel los zum Klinikum. Meine Vorbereitungszeit ist gleich Null, aber der Wille zählt, und da ich nicht mit leeren Händen da stehen will, entere ich den Kiosk am Klinikeingang. Blumen, Kekse, Zeitschrift lautet sowohl die allseits im Abendland übliche Versehrtenmitbringsel-Standardempfehlung in solchen Fällen als auch mein persönlicher kurzfristiger Improvisationsplan. Blumen gibt es hier keine, nicht mal die üblich peinlichen Tankstellen-Plastikfolien-Habe-Deinen-Geburstag-vergessen-Gebinde. Ich verlasse die kliniköse Konsumentenversorgungsenklave , um ein erkleckliches Sümmchen Bares erleichtert, auch ohne dass es um die Einlösung von Sanifair-Gutscheinen gegangen wäre, mit einer Tüte Haribo und einer Packung Kekse, die entweder aus Gold- und Feenstaub gebacken worden sein müssen oder wahrscheinlich von Hans-Dietrich Genscher anlässlich des Mauerfalls persönlich ungeöffnet wurden.
„Sie hat bestimmt Hunger“ ist mein definierter primärer Motivationstreiber als ich mutig den rustikal müffelnden semi-antiken Fahrstuhl besteige und mich auf der Suche nach ihrer Station mache. Als ich oben ankomme, empfängt mich ein deutlich sichtbares Schild mit der Aufschrift : „Wir bitten Sie, aus hygienischen Gründen auf das Mitbringen von Blumensträußen zu verzichten.“ ,und ich sehe mich in meiner Wahl der Gastgeschenke bestätigt. Sicher, ihr eine Freude zu machen, betrete ich das Krankenzimmer. Sie liegt am begehrten Fensterplatz in einer typisch rustikal sterilen und kärcherbaren Zweierunterbringung. Na wenigstens muss ich niemanden beschwätzen, um ihr einen besseren Platz zu verschaffen, denke ich gleich. Sie strahlt mich an und ich reiche ihr umgehend und freudig die mitgebrachten Leckereien, Inbegriff meiner grandiosen Aufmerksamkeit, Ausdruck meiner unendlichen Weisheit und edelmütigen Voraussicht, hell leuchtendes Zeichen meines „Ich weiß, was Dir fehlt“-Verständnisses.
Und dann, na sagen wir mal, kippte die Stimmung doch etwas. Erinnert sich noch jemand an Hurrican Kathrina oder den Moment, als klar wurde, das Trump gewonnen hat? Ungefähr so. Denn ich hatte völlig Recht. Sie HATTE Hunger. Und wie ! Denn sie durfte, in direkter Erwartung der OP, schon seit geraumer Zeit nichts essen. Gar nichts. Und trinken auch nicht, nicht mal Wasser, weshalb sie dauerhaft einen rollbaren Tropf mit sich herumziehen musste, der sie mit Flüssigkeit versorgte. Und da stand nun ich mit zwei verführerisch knisternden Kohlenhydratkonglomeraten vom Allerfeinsten, mit optisch, akustisch und haptisch umgehend Kindheitserinnerungen auslösenden Hungerverstärkern der Extraklasse, geradezu tödlich verlockend. Ich hätte auch ein dreckig verwahrlostes Körbchen voller vernachlässigter, hungriger, Katzenbabies mitbringen können, da hätte sie sich wohl noch eher unter Kontrolle gehabt. Na, jedenfalls erntete ich, was ich gesät hatte und bekam eine Standpauke der Kategorie „Hundert Anschläge pro Minute“. Mir fiel schlagartig ein, warum ich sie immer „mein persönliches Hintergrundgeräusch“ nannte, eine Bezeichnung, die sie hasst, aber wir sind hier im Perspektivenrand ja unter uns.
Ich wuppe also die Süßigkeiten flugs (Nein, nicht das vom Kompensator) in ihr metallenes Multiversorgungsschränkchen, als sie energisch für uns beide beschließt, dass es das Beste wäre, den unaufgefordert beigebrachten Nahrungsmitteln, aus Respekt vor der eigenen bekannten Indikations-Inkonsequenz, auszuweichen und eine weitere Runde zu gehen. Wir verlassen also das Zimmer und machen uns auf den Weg den Gang rauf, um die Kurve, den Gang auf der anderen Seite herunter und wieder von vorn. Dabei sind ihre Sinne katzenartig gespannt wie der sprichwörtliche Flitzebogen, Ihr Nase riecht jedes verlorene Brotkrümelchenatom, Ihre Augen sehen das hinter der Milchglasscheibe im Schwesternzimmer liegen gelassene, mittlerweile runzlig knorpelige, Frikadellenbrötchen der abgelösten und scheinbar nichts vermissenden Nachtschwester und ihre Ohren hören, wie der blankgeschrubbte Transportschlitten der Küche, beladen mit Conveniencefood der Kategorie „Signature Series“, neun Stockwerke tiefer lautlos in den Fahrstuhl und an ihr vorbei geschoben wird. Dabei zieht sie immer den scheppernden Tropfständer, durch einen lebensverlängernd geschmacksneutral flüssigkeitsspendenen Transparentschlauch der Verdammnis auf Dauer mit ihr verbunden, mit sich im Gang herum und schimpft wie der sprichwörtliche Rohrspatz auf meine Idee mit Keksen und Haribo.
Ich versuche, das eine oder andere Lächeln dabei in ihren Augen zu interpretieren und habe trotzdem ständig das Gefühl, gerade mit einem Currywurst-Wagen durch Zentralafrika zu fahren. Ich habe mittlerweile einige Erfahrung darin, Enttäuschung und Ärger in Frauenaugen zu erkennen, ähnlich wie ein Eskimo oder Innuit fünfzig oder mehr verschiedene Worte für „Schnee“ hat, während der Durchschnittsmann mit Reihenhaus und Bausparvertrag nur in gelbem Schnee ein Problem für sich erkennt und daraus dann Handlungsempfehlungen ableitet. So hat eben jeder seine Fähigkeiten.
Wir umkreisen geduldig wiederholt das triste Stationskarree und allmählich lerne ich alle Dienst habenden Krankenschwestern auf unserem Hungermarsch kennen, ähnlich wie der leider so früh, wenn auch nicht ernährungsbedingt, verstorbene Heath Ledger in der grandiosen Verfilmung von „Die vier Federn“ dann irgendwann alle Mitgefangenen im Loch kennt. Wobei ich bei mir selbst allerdings dabei die Diagnose stelle, dass mit mir auch etwas nicht in Ordnung sein könnte, denn die üblicherweise zu spürende Sogwirkung von „Frauen in Uniform“, eine bio-physikalisch unsteuerbare Eigenart meines Baujahrs und Typs, in Krankenhäusern anlässlich der omnipräsent gleichgekleideten Krankenschwestern regelmäßig extremst intensiv erlebt und unverwunden, macht diesmal keinerlei Anstalten, mir das vorhandene Personal schön zu reden und mich auf hormonelle Interaktion umzuschalten, ein Umstand, den ich zunächst nicht einsortieren kann. Ich vermute, es ist wie bei Star Wars: wenn der Stern erst mal im Bild ist, hat man keinen Blick mehr für etwas anderes. (Ja, ich weiß, dass Ding heißt eigentlich „Todesstern“, aber das klingt in diesem Zusammenhang wirklich weder passend noch nett und ist geeignet, mir an anderer wichtiger Stelle einen sternförmigen Einschlag im Nacken zu verpassen, muss deshalb hier aus Gründen künstlerischer Freiheit eingedampft werden und hat vom geneigten Leser selbst eingebracht zu werden, wenn es denn aus Gründen cineastischer Korrektheit unbedingt sein muss.)
Bei jeder Gelegenheit zetert mein kreisender Hungerpatient etwas von „Menschenrechten“ und „Quälerei“, verteufelt den sich Zeit lassenden Arzt und die unsensiblen, weil sicher satten, Schwestern. In gefühlt Runde 73, als wir wieder einmal am Empfang vorbei scheppern, und die Personifikation von Zeter und Mordio, mein streitbarer Begleiter , gerade wieder in Höchstform die geschäftspolitischen Leitlinien von Amnesty International in Prosa vorträgt, und die lauschenden Mitkranken eigentlich nur noch auf ihre Version von "I had a dream" warten, lehne ich mich kurz am Tresen zur angestrengt beschäftigt nach unten sehenden Stationsschwester hinüber. Mit den Worten „Darf ich sie etwas fragen?“ erziele ich nicht nur ihre, sondern auch die Aufmerksamkeit meiner liebenswerten tropfschiebenden Appetitmanifestation neben mir. „Sagen Sie, wie viele Patienten sind Ihnen eigentlich in letzter Zeit an Hunger gestorben?“ frage ich mit besorgtem Blick und habe sofort blitzende Augen dankbaren Verstehens vor und einen Hagel von Giftblitzen hinter mir, während überall ums Karree herum grinsende Gesichter auftauchen. Das gibt Ärger, aber das ist es mir wert.
Ein gequältes Lächeln und zwei weitere Runden später entschließe ich mich zu gehen, wohl wissend, dass ich wiedermal eine meiner prägnantesten Eigenschaften in die Waagschale werfe, die Entspannung zu schaffen, wenn der Schmerz nachlässt. Ich bin eben scheinbar nicht dazu da, das Leben Anderer leichter zu machen, aber es wird sicher nicht langweilig und ist immer aufrichtig, ähnlich wie ein herausgezogener Splitter die Abwehrkräfte für den nächsten trockenen Ast vorbereitet.
Ich wünsche ihr von Herzen, dass die OP gut verläuft und verabschiede mich zurück in den gedrängelten Alltag. Als sich die Fahrstuhltür schließt, höre ich ihren Mobiltropf noch lange zurück ins Zimmer quietschen. Hoffentlich geht alles gut, sinniere ich vor mich hin. Aber am wichtigsten ist natürlich, dass die Kekse schmecken.