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Die Abwehr kann spielverlängernd sein

 

Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Heute abroad, on the road, unterwegs und aushäusig. Wieder einmal zieht, drückt, schiebt es mich nach Nordhessen, denn nicht nur unternehmungslustig geborene, urlaubsfreudenerprobte und kostengünstige entspannende Niederländer finden regelmäßig den Weg ins Kasseler Umland, sondern eben auch semi-urban geprägte Assekuranznomaden wie ich. Warum nach Holland fahren, während die ganzen Holländer zu uns kommen? Ich fahr ja auch nicht nach Afghanistan. Oder sagen wir, vielleicht später mal, wenn vielleicht mindestens die aggressiven Taliban ihren energisch demonstrierten Frustrationshorizont auf das Level von Tilly beim Anblick dermatologisch angegriffener Spülhände zurückgeschraubt haben und es in der Gegend am Hindukusch wieder so schön und traditionell wertvoll ist wie vor der Zeit als John Rambo noch den ewig aufrechten Colonel Trautman retten musste. Ist halt wirklich schön hier, anne Fulle.

Doch heute beginnen wir anders, vor jeder Kür kommt die Pflicht, vor jedem Vergnügen erst die Arbeit und nur wer weiß, wo seine Wurzeln sind, kann wachsen. 

Zwei von meinen Familienmitgliedern sind mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht, zum Glück einem von den guten, was sich erwiesenermaßen nicht in schickem Mobiliar oder großen Zimmern bemessen lässt, sondern vor allem an der Pflegegrad- und Abrechnungs-unabhängig aufgewandten Herzlichkeit seiner engagierten Mitarbeiter, und das ist hier gelebte Kernkompetenz. Ich betrete also das Gebäude, desinfiziere meine Hände und drücke den überdimensionierten Türöffner. Leise surrend öffnet die Pforte und mich empfängt dieser typische Pflegeheimgeruch, etwas, woran ich mich nie gewöhnen werde und was offensichtlich trotz aller Febreze und Brise-Bemühungen, mit und ohne sensorgesteuertem Ausstoß, manuell oder automatisch, an die von herzlichem Pragmatismus geprägte Umgebung abgegeben, bei allem Fortschritt nicht in den Griff zu kriegen ist und heute wie früher geeignet ist, unschlüssig bislang ferngebliebene Kaltherzverwandte auch zukünftig in unangemessener Emotionaldistanz zu halten.

 

Es ist mittlerweile kurz nach elf und ein Großteil der Bewohner sitzt bereits im Speise- und Aufenthaltsraum, hier im Erdgeschoss, denn ab halb zwölf beginnt die Mittagsessenausgabe. Alle Mitarbeiterinnen sind mit der aufwändigen Vorbereitung beschäftigt, es herrscht emsiges Treiben, man hört geschäftiges Geklapper aus der angrenzenden Küche. Und so ist dies einer der wenigen unschönen Momente, in denen die Bewohner wie abgestellt wirken, geparkt am Straßenrand der gestressten Gesellschaft, nicht vergessen, auf jeden Fall bestens versorgt, aber eben noch nicht dran. Wartend auf ein einfaches, aber gutes Mittagessen, eines der wenigen gefeierten Highlights im täglichen Einheitsbrei aus hippen Wadenwickeln, kreativ aggressivem  Rollator polieren und dem unfreiwilligen Nachdreh von „Was ist mit Bob?“, also den unvermeidlichen Babysteps zum Fahrstuhl, Babysteps in den Fahrstuhl hinein und so weiter. Und so sitzen sie, teilnahmslos auf die präperativ platzierten Vor- und Nachspeisen Gurkensalat und Apfelmus stierend, beides in homöopathisch akzeptablen Pressglasschälchen mit dem Durchmesser zweier nebeneinander liegender Prototypen-Globoli serviert, und vor allem aber gewürzt mit dem wichtigsten Gewürz von allen : Vertrautheit. Sie reden nicht miteinander, sondern sitzen einfach nur so da, es ist unnatürlich still. Ich lege also meinen Arm um unser gestrandetes Familienmitglied, einen herzensguten und hilfsbereiten Mann, der es genauso wenig verdient hat, hier zu sein, wie all die Anderen und spreche mit ihm, bis sein Blick mir sagt, dass es zuviel wird. Karma is a bitch (und Gott wahrscheinlich eine Frau, aber das ist ein anderes Thema).

 

Nach einigen Minuten mache ich mich auf, unser 94-jähriges Familienoberhaupt, für mich ist es die „Queen“, auch weil sie gleichalt wie Lisbeth ist, dazu zu holen. Sie zetert und meckert über das zu erwartende Essen und ich bin nicht überrascht. Ihre Kochkünste sind schließlich legendär, Ihr Eierstich unerreicht, Ihr Gulasch atemberaubend. Sie ist ein Schatz der Cuisine, hat ernsthaft ihre herrliche Nachkriegshausmannskost mit der Kreativität von Jamie Oliver verknüpft, solange sie noch selbst kochte. Jetzt ist sie hier gefangen unter Amateuren. Eigentlich sollten sie SIE kochen lassen, habe ich schon oft gedacht, schließlich herrscht auch in der Infanterie und auf U-Booten Ruhe und Zufriedenheit unter der zusammengewürfelten Mannschaft, solange das Essen die Seele erfüllt, Herr Kaleun.  Aber mir ist natürlich klar, dass die mannigfachen Bedürfnisse der verschiedenen Bewohner, das Konglomerat aus echten Unverträglichkeiten, nicht zu vergleichen mit den stümperhaft getanzten Zusatzstofftabellen der Waldorf-Generation und in seinem Variantenreichtum einer innergroßstädtischen Starbucks-Angebotstafel nicht unähnlich, jeden Anstalts- und Wohnanlagenkoch dramatisch herausfordert und zwangsläufig zum kulinarischen Scheitern verurteilt.

 

Ich betrete mit ihr also zum zweiten Mal den Gemeinschaftsraum, doch diesmal ist alles anders. Mir fällt sofort auf, dass alle Bewohner, noch immer ohne ihren kulinarischen Hauptgang, aufrechter in ihren dunkelbraun gemusterten Starkwolle-Polster Armlehnstühlen sitzen. Es herrscht unverständliches Geplapper, irgend etwas muss passiert sein. Und dann höre ich unsere 94er Queen sagen „Ach herrje, da isse wieder!“. Eh ich mich versehe, hat mich eine Bewohnerin am Schlafittchen. Vor mir steht unvermittelt eine niedliche kleine Frau undefinierbaren Alters, aber sicher deutlich in ihren Achtzigern. Wie Meister Yoda legt sie mir Ihre Hand flach auf die Brust und sagt „Na Du bist aber auch ne echte Latte, was? Bist ein ganz schön Großer!“ ja stimmt, und baff bin ich auch. Ich beginne einen höflichen Dialog mit der mir unbekannten Lady und kriege natürlich mit, dass nicht nur meine zwei loved ones , sondern die ganze verfluchte Apfelmus-Rollatoren-Kombo gerade einen Heidenspaß daran hat, wie ich mich aus der Situation zu winden versuche. Dabei lächelt es mich aus ein Meter sechzig Höhe, yodaähnlich und sehr freundlich von unten nach oben an, aber mir steigt natürlich auch der Geruch von ein oder zwei durchgeschmorten Hauptverbindungskabeln in die Nase, denn sie ist ganz klar ebenfalls nicht grundlos hier, soviel ist sicher. Dennoch bin ich höflich und freundlich in meiner gelebten Verzweiflung, denn so bin ich erzogen. Sie ist schließlich bei aller gebotenen Vorsicht ebenfalls nett und freundlich, wie Catherine Deneuve in  extatischer Symbiose mit Chucky, der Mörderpuppe. Dafür bekomme ich kostenlos eine Entertainmentmöglichkeit für das vollständig belustigte anwesende rollende Bodenpersonal, auf meine Kosten, aber angemessen, wie ich statuiere.

 

Sie lässt schließlich, wie schon zuletzt es andere Frauen vor ihr taten, nach erfolgter Bestandsaufnahme und leichtem Kopfschütteln, desillusioniert und resignierend von mir ab und visiert ein schnell gefundenes, neues Objekt der Begierde an. Doch diesmal schlagen mich weder untote Exfreunde, emotionale Hohlkörper, noch unkompatible Lifeschedules vor den Kopf und in die Flucht, sondern einer der ungekünstelten selbstgemachten Gurkensalate, offenbar für alle über achtzig ein George Clooney Derivat ersten Ranges und in jedem Fall geeignet, mir den Rang abzulaufen, insbesondere da ich Laufen als Kernkompetenz ja unlängst ohnehin zurückstellen musste. Ich bin also nicht nur geschlagen, gehörnt und entmaskulinisiert von einem einfachen Gurkensalat, sondern freue mich auch noch darüber. So läuft es manchmal.

 

Jetzt geht der lächelnde Mini-Jedi in Zeitlupe an einen der freien Sitzplätze, greift eine der parat liegenden Gabeln und beginnt, sehr, sehr langsam, den fremden Gurkensalat nicht nur zu essen, sondern den Genuss zu zelebrieren. Konsum ist die höchste Form der Wertschätzung, sagt der Chinese. Sie genießt den Gruß aus der Küche mit allen Sinnen, führt langsam und bedächtig, wieder und wieder, die Gabel zum Mund und ist offensichtlich im siebten Himmel, Endo Calrissians Himmelsstadt, oder zumindest nah dran. Pure Leidenschaft, nur eben kulinarisch und frei ab achtzig. Das bleibt nicht unbeobachtet. Eine Welle der Empörung baut sich bei den Anderen auf und wogt mit Nachdruck durch den Raum. „Hast Du gesehen?“  und „Die hat doch schon wieder!“ und „Die kann doch nicht einfach!“ werden nur ab und zu von einem „Die müsste man!“ unterbrochen, bis jemand schließlich sagt „Auf jeden Fall ist der Gurkensalat wohl lecker, und das ist wichtig!“.

 

Schließlich fällt es auch einer freundlichen Mitarbeiterin auf, die zuckersüß aber energisch den cucumiszösen modernen Mundraub beendet und der lustigen Lady ihren eigentlichen Platz zuweist, wo eigener Gurkensalat auf sie wartet. Ich finde es großartig, denn sie hat hier ganz unfreiwillig den dringend benötigten Schwung in die Hütte gebracht, wie ein reinigendes Gewitter, ein stachelig liebenswertes Maskottchen oder ein unerwarteter Kindergartengruppenbesuch an einem Sonntagmorgen. Sie hat allen, die sich aufregten, ungewollt richtig gut getan, die ungenutzten, angestaubten, Lebensgeister geweckt und die Abwehrkräfte gestärkt. Ich höre Pallaver, ich sehe vor Aufregung gerötete Wangen und ich bin mir sicher, die einen oder anderen Dritten mit dem cardialen Impulsgeber um die Wette klappern gehört zu haben. Ich mache es manchmal selber so. Also, nicht mit den Dritten klappern oder den Schrittmacher vorspulen aber ich irritiere schon mal, bin frech, wenn Trost erwartet, oder diplomatisch integrativ, wenn Attacke gefordert ist. So wecke ich im Idealfall Aufmerksamkeiten wie ein Opening von Serdar Somuncu, schüttle wie ein Livegig von Faithless und versuche alles für mein verwirrtes Gegenüber zu geben. Gestärkte Abwehrkräfte bringen die Leute schneller wieder auf Kurs, davon bin ich fest überzeugt.

 

Wechseln wir doch mal die Perspektive, denn die freundliche, verwirrte Lady hat niemandem etwas getan, sie ist vermutlich auch jemandes Oma, und es ist sicher noch für alle Gurkensalat da, allen geht es gut, auch ihr. Sie ist etwas aufmerksamkeitsbedürftig, aber das wird hier sicher geleistet. Eine tolle Sache, ich wünsche ihr noch viele tolle Momente und den übrigen Bewohnern genauso. May the force be with you.