
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Einmal mehr von unterwegs, es ist Urlaubszeit. Und einmal mehr kam wieder einmal alles anders, als geplant. Die Kids haben „Chillzeit“ allein beantragt, sind Papas Entertainmentprogramm wohl kurzfristig etwas überdrüssig, und so öffnet sich ein überraschendes Zeitfenster für ein romantisches Abendessen zu zweit mit meinem Stern des Südens bei Kerzenschein und Wein in nettem Ambiente, so der Plan, den wir natürlich nicht haben.
Es ist ein Montagabend und nicht alle Lokalitäten sind in Kassel verfügbar, einige haben sogar Betriebsferien und die wenigsten würden wohl für uns beide extra zur
selbst definierten Unzeit öffnen, selbst wenn wir mittlerweile, es ist deutlich nach 20 Uhr, ordentlichen Hunger haben und wir zwei sicher für eine angebotene Speisekarte ein ähnliches
Potential darstellen wie für Nestlé der jährliche Wasserverbrauch von Las Vegas im Verhältnis zu dem von Wayward Pines stünde. Schätze ich jedenfalls. Im Übrigen habe ich durch eigene, genaueste,
empirische Erhebung bereits feststellen können, dass zwischen „Sternchen“ und „Todesstern“ in der Regel nur wenige zu spät oder unzureichend zugeführte Kohlenhydrate stehen, weshalb ich für mich
entschieden habe, keine großen Experimente zu machen und uns schnell zu versorgen. Wir entscheiden uns schließlich kurzerhand für jenes, uns bestens bekannte, idyllisch zwischen Karlsaue und
Fuldaufer gelegene kulinarische Kleinod, mit tollen gartenanlagenähnlichen Außensitzplätzen, verwinkelten Sitzecken und romantischem Ambiente. Wir waren beide schon des Öfteren früher dort, vor
Jahren, seinerzeit natürlich nicht miteinander, sondern irgendwie jeder für sich mit seiner eigenen Version von mehr oder weniger schmerzauslösendem Lebenserfahrungssammeln und mehr oder weniger
erfolgreichen romantischen Zwischenzeitzielen auf dem Weg zum Jetzt.
Wir wissen, dass dort mittlerweile nach all den Jahren ein chinesisches Restaurant mit mongolischem Grill ansässig ist, was für uns nach viel carnovorisch
auszuschüttenden Endorphinen und damit genau den richtigen, bösen Ernährungsplanvereitlern klingt, und da sind wir nun, zweimal FedEx a lá Chuck Noland kurz vor dem Verhungern, allein genährt
durch romantisch verklärte 30 Jahre alte Vorstellungen eines Traumzieles aber beide der Meinung, der jeweils Andere müsse ja dann Wilson sein. Times change. People change. Und meine
erfolgreichen Volleyballzeiten sind so präsent wie eine zwanzig Jahre vergrabene Salzurne im Reinhardswälder Friedwald. Vegan ist heute nicht drin, schließt Eure Kinder weg, zwei Raptoren sind
auf der Straße.
Wir sind irgendwie mit uns selbst beschäftigt, als wir ankommen, achten nicht auf die deutlichen Hinweise der näheren Umgebung, übersehen das Offensichtliche, und
betreten den Außenbereich des Restaurants durch eine rote, typisch Tourismus-chinesierte Rundbogenkonstruktion mit wohl ehemals goldenen Schutzdrachen und undefinierbaren Fabelwesen, und es ist,
als hätten wir auf dem Weg nach Hogwarts versucht, durch die falsche Bahnhofsmauer zu diffundieren, denn uns erwarten eine unfassbar farbenprächtige Inszenierung im Stil eines Guillermo del Toro,
ein blutiges Fleischgemetzel wie bei Tarantino und eine faszinierende Sozialstudie a lá Woody Allen, wobei Juden so ziemlich die einzige Bevölkerungsgruppe ist, die wir nicht ausmachen
können. Und über allem immer ein Stück „Die Vögel“, und man erwartet, den alten Alfred hinter dem nächsten Busch sitzen zu sehen.
Auf ausgelutschten, weggetretenen und sich nicht zwischen „vermoost“ und „vergilbt“ entscheiden könnenden künstlich natürlichen Steinplatten bewegen wir uns in
zickzackigen Schlangenbewegungen durch die versprengt positionierten und teilweise allem Anschein nach russisch, niederländisch und/oder polnisch bevölkerten Sitzgelegenheiten, deren
mobiliarische Ausstattung noch genau die selbe ist wie damals. GENAU die selbe. Und so sieht sie auch aus, aber andererseits sind wir beiden halb verhungerten Romantiker ja auch nicht jünger
geworden, denke ich und begrüße den zerfledderten Rattanstuhl wie einen alten Freund, als wir uns für einen Rundtisch entscheiden, der zwar weder abgeräumt noch abgewischt aussieht, dessen Lage
uns aber anspricht. Vor allem, weil weiter hinten nichts mehr kommt. Der romantisch verklärte Garten drum herum könnte wohl auch einen auffrischenden Trimmschnitt vertragen, aber darauf kommt es
nach den letzten 15 Jahren nun auch nicht mehr an, und da die in der Nähe liegende Sababurg derzeit aufwändig umgebaut wird, braucht Dornröschen vielleicht einfach ein aushelfendes Refugium und
dafür reicht es. Wir sind ja flexibel, tolerant und vor allem hungrig. Also schieben wir die Überbleibsel der vorherigen Gäste kurzerhand zur Seite, erzeugen eine schlierende Pfütze unbekannten
Ursprungs auf der Marmorplatte und warten auf die Bedienung. Der Chinese an sich hat ja den Ruf, emsig, schnell und fleißig Potentiale und Arbeitsaufträge zur erkennen, es wird also nicht lang
dauern.
Wir sehen uns um und versuchen uns an ein wenig Smalltalk, was angesichts des Hungers innerhalb kürzester Zeit für Außenstehende den Eindruck erweckt haben könnte,
hier werden zwei aufgeputschte Vertriebler auf Landgang gleich die Waffen wählen und sich mit blitzendem Stahl heftigst vor den Türen Kassels an die Gurgel gehen, doch es ist in der Tat alles in
Ordnung. Nur die Bedienung könnte flotter sein, denn, hatte ich erwähnt, dass wir Hunger haben? Ich kann förmlich spüren, wie der Todesstern die Waffen lädt und um diese Uhrzeit wird wohl kein
Fluginsekt im BVB-Dress mehr eine kurzfristige Druckabsenkung ihrer Hauptventile ermöglichen und mir zu Hilfe kommen. Zwei Tische weiter sind derweil zwei Pulis samt Herrchen angekommen, was mich
kurzerhand auf den Gedanken bringt, diese könnten doch unsere Tischdesinfektion voran bringen, aber ich verwerfe den Gedanken mit Blick auf den Tierschutz schnell wieder.
Langsam erkennen wir, wo wir eigentlich sind und müssen anerkennen, dass, schlüge man bei Wikipedia unter „Desillusionierung“ nach, vermutlich unser Bild hinterlegt
ist. Vom Rückzugsort unserer Erinnerung besetzen nur noch Fragmente wie durch Zufall die vergleichbare Position im Kasseler Universum. Das Sitzplatzarrangement wurde auch schon früher durchzogen
von einem geschickt verkleideten künstlichen Teich mit ein paar spärlichen Fischen und einem kleinen Springbrunnen, ein zartes Plätschern bildete immer einer permanente, stimmungsvolle
Hintergrundakustik. Egal wo man saß, man saß direkt am Wasser, was immer eine tolle Stimmung beförderte. Nun ist der Chinese an sich wohl eher pragmatisch orientiert und insgesamt wohl nicht so
wirklich an Stimmungen interessiert, denke ich, denn wie soll ich es sonst erklären, dass der Teich noch vielleicht 20 Zentimeter Wasserstand vorzuweisen hat, was einen ungeahnten Blick auf die
vermoosten, ein Meter fünfzig hohen, Seitenwände und Ablagerungen unterschiedlichster Kulör freigibt. Ich wünsche den Fischen, dass sie es noch geschafft haben, allerdings räumt am
gegenüberliegenden Tisch gerade ein ausgewachsenes stattliches Krähenpärchen die Reste ab (ja genau, noch ein unabgeräumter Tisch) und lässt sich dabei von Menschen offenbar genauso wenig stören,
wie ein Grizzly im Yosemete. Wir starren fasziniert auf Tipi Hedrens Filmgegner von 1963 und kriegen langsam ein Gefühl für die Rolle, Mr.Hitchcock. Wir können uns damit allerdings nicht lange
beschäftigen, denn direkt hinter uns plärrt urplötzlich ein Stereoanlage Typ „Nordmende Stereo“ oder baugleich, türkische Musik in unsere, oder überhaupt jede, Richtung und macht damit
unmissverständlich klar : Ja Freunde, hier grenzt ihr an das Territorium des anatolisch-nordhessischen Elite-Minigolf-Kalifats, quasi das Außengelände von Recep Tayyip Erdogolf, hier gibt es
weder Rücksicht noch Diskussion, schon gar keine Kooperation mit den Chinesen oder deren Gästen, hier wird Minigolf auch nachts angeboten, doch sicher nicht jedem, und vermutlich wird auch hier
jeder, der die Regeln nicht beachtet, genau wie beim „Big Lebowski“ sehr schnell die Welt des Schmerzes betreten. Glücklicherweise schien es sich nur um den Song des Tages zu handeln, denn die
Lautstärke wird rasch wider gesenkt.
Dennoch ist unsere Geduld arg strapaziert und wir wollen gerade aufbrechen, als doch noch eine Bedienung erscheint. „Guten Abend, meine Herrschaften, ich möchte Sie
bei uns willkommen heißen, schön dass Sie da sind. Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?“ will die junge Chinesin vermutlich zu uns sagen, wird allerdings auch hier Opfer des
sozialistisch-kapitalistisch geprägten Pragmatismus und wirft uns ein stark abgekürztes und entemotionalisiertes „Buffet oder Karte?“ über den Tisch, während Sie mit einem Lappen, dessen
bakteriöses Eigenleben vermutlich auch durch bloßen Zuruf selbständig die gewünschten Wischbewegungen hätte ausführen können, dem Marmor einen neuen abwehrstärkenden Mikrobenüberzug gibt. Wir
entscheiden uns für das Buffet, bestellen etwas zu Trinken und riechen Morgenluft. Oder es ist das Desinfektionsmittel. Jedenfalls gibt es jetzt wohl etwas zu essen. Da wir unsere Sachen nicht
unbeaufsichtigt lassen wollen, verlässt der Todesstern als erste das Trockendock auf dem Weg zum Buffet, sie hat Witterung aufgenommen und ist Willens, Beute zu machen. Da steht man besser nicht
im Weg, und wenn ich dann später dran bin, wird mich ein satter und zuckersüßer Sternenstaubverteiler erwarten, Sternchen eben. Das ist es wert, also warte ich.
Es erscheint derweil : der Chinese. Ob er Kellner, Chef oder überhaupt Chinese ist, ist mir nicht ganz klar. Seine Kleidung drückt mehr so ein „ich dürfte gar nicht
hier sein“ aus, als er mir die Getränke bringt. Vermutlich war er auf der gleichen Etikette-Schule wie die junge Bedienung von vorhin, denn auch er wollte vermutlich etwas ganz höfliches und
zuvorkommendes sagen, doch der ihm eigene Pragmatismus lässt auch bei ihm nur eine hieroglyphische Grußformel durch, die ich, knapp davor, einen Logopäden hinzuzuziehen, als „Buffet nur bis
zehn!“ zu identifizieren glaube. Ich nicke freundlich und sehe auf die Uhr: 21:15 und von Sternchen keine Spur, sie ist seit 20 Minuten verschwunden.
Es erscheint derweil ein zweites Mal : der Chinese, wer oder was auch immer er ist. Diesmal scheine ich ihn zumindest nicht zu stören, denn er räumt lautstark die
benachbarten Tische und Stühle zusammen, auf denen niemand mehr sitzt (wobei ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass ihn das nicht wirklich abhalten würde) und unterstreicht so seine
Aussage von vorhin: um zehn ist Sense. Um zehn klappen sie die Bordsteine hoch. Um zehn ist Schluss mit lustig. Um zehn ist nix mehr mit Futter. Seht zu, dass ihr fertig werdet. Alles klar, er
muss nichts sagen. Wie zur Bestätigung krächzt die Krähe am Nachbartisch eine vermutlich mandarin-ornithologische Bestätigungsfloskel und hüpft mit etwas schon seit längerem toten davon. Der Mann
greift sich unterdessen einen der Stühle und wirft ihn kommentarlos in hohem Bogen, quer über den Teich der Verdammnis, der vielleicht auch nur eine pedantisch genaue Darstellung des aktuellen
Zustandes des Aralsees verkörpern soll, vorbei an den verdutzten Polen, in Richtung des Tisches der amüsierten Russen, die sich nicht wirklich überrascht zeigen, als das Rattangeschoss knallend
bei ihnen aufschlägt. Er reckt den Daumen, ruft etwas davon, dass der Stuhl sowieso kaputt war und lacht. Die Russen prosten ihm zu und er verlässt mich in doch ziemlich irritiertem
Zustand, während hinter mir nochmal kurz der türkische Ghettoblaster aufbläst. Wo ist der Todesstern, wenn man ihn braucht?
Schließlich erscheint ein sichtbar gut gelauntes Sternchen, bepackt mit gleich zwei, deutlich den Boden nicht mehr durchscheinen lassenden Großformattellern, denn
wie sich herausstellt, kann man sowohl den mongolischen Grill mit Leckereien beladen, als auch gleichzeitig das chinesische Buffet plündern. Ich ziehe als los, noch ist Zeit, und das haben
wir uns jetzt verdient.
Nach kurzer Orientierung beginne ich, mir ebenfalls einen Teller für den Grill zu bepacken. Wobei ich schon bei Tintenfisch, Oktopus und Riesengarnelen meinen
Teller so vollgeladen habe, dass ich weder zu den Fleischklassikern komme, noch zu „Wild Hirsch“ oder „Kanguruh“. Ich liefere den Teller bei einem mächtig muffeligen Mongolen ab, der wort- und
lieblos hinter einem lieblos zusammengetackerten und vermutlich aus authentischen Tsunamiresten zusammen recyceltem Stand die Pretitiosen des Meeres auf eine heiße Platte kippt, was einem „Grill“
ungefähr so nah kommt wie die unter Hipstern beliebte Zubereitung von Discountergrillgut mittels digitalthermometer gesteuerter und piezogezündeter Blechkugel auf Tripod. Egal. Die Lebensmittel
sind tatsächlich von fantastischer Frische und Qualität und ich freue mich darauf. Da kann der Mann nix falsch machen. Bitte nur ordentlich durch erhitzen, ja? Ich tu mir dann noch etwas aus dem
Topf mit der handschriftlichen Aufschrift „mongolische Grillsoße“ drauf, fertig, ok? Währenddessen durchstöbere ich das reichhaltige chinesische Buffet und bin deutlich relaxter als noch vor ein
paar Minuten, als ich mich zwischen Todeskrähen und fliegenden Müllstühlen über Wasser halten musste. Ebenfalls mit zwei stattlichen Tellern beladen, schließlich wird es wohl keinen zweiten
Aufschlag geben, kehre ich zurück an unseren wenig romantischen Nahrungsaufnahmestützpunkt, aber wenigsten habe ich jetzt wieder die süßeste Begleitung aller Zeiten, und die Hälfte meines Essens
sieht mich ebenfalls an.
Die Nacht kann kommen, wir werden sicher nochmal nach anderem Ambiente suchen gehen, denn hier ist es dem Pragmatismus zum Opfer gefallen oder stand der neuen
Seidenstraße im Weg oder irgend etwas in der Art. Satt und um einige bleibende Eindrücke bereichert, beerdigen wir die verklärte Erinnerung an Früher, durchschreiten wieder den roten Bogen am
Eingang und sind schier geblendet von der pragmatisch dramatisch drapierten meterlangen Lichterketteninstallation, die direkt aus einer Straßenschlucht einer chinesischen Großstadt stammen
muss. Sie ist an revolutionary cheapness nicht zu toppen, und wirkt wie aus der Zeit gefallen, verbraucht vermutlich Strom wie eine nordhessische Dorfmetropole, eine Manifestation eines gänzlich
anderen Kulturkreises, vielleicht hat uns Dr.Strange ein mystisches Portal geöffnet, ohne dass wir es bemerkten, vermutlich haben wir zum ersten Mal authentische chinesische Lebensart kennen
gelernt und diese Erkenntnis war dennoch for free. Tolle Sache. Man muss halt genauer Hinsehen, sag ich doch! Hätten wir beim Reingehen tun sollen. Hätten wir echt. Ach ja : lecker war´s dann
doch.