Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Die Tage sind weiterhin sommerlich warm, die Nächte verschwitzt und die viel zu kurzen Wochenenden kostbar und besonders. An frischen, zarten Trieben darf man nicht ziehen, sonst gibt die feinfaserige, junge Struktur unter dem unnötigen und falsch platzierten Zug und Druck kollabierend nach und wird nie zu voller Blüte kommen. Feingefühl ist angesagt und der einzige erlaubte Druck darf der flagrantile Unterdruck eines heftigen osculums auf excitarierter Epidermis sein, haben ich mir sagen lassen. Nun denn. Ich bin anpassungsfähig, aber nicht Odo, und wenn hätte ich sicher schon längst meinen Eimer (ich ärgere mich immer noch, die signierte Version nicht 2018 auf der Star Trek Experience in Dortmund gekauft zu haben). verlassen, aber ich lerne täglich dazu. Und dennoch stehen wir am heiligen Sonntag, leidlich ausgeschlafen und frisch wie zwei fesch gekleidete Murmeltierabklatsche, die sich nach der zu langen Siesta, die einer tequilareichen emotionalen Nacht gefolgt sein mochte, den staubigen Sombrero aus den Augen schieben, auf einem tradtionellen Flohmarkt in Nordhessen. Es ist später Vormittag und die Sonne knallt überraschend beachtlich. Die Ausstellungsfläche ist auf dem überdachten Unterdeck platziert (nicht zu verwechseln mit einem unterdeckten Überdach), und lockt mit angenehmen Temperaturen. Auf dem von der Sonne maltretierten, ungeschützten Oberdeck tummeln sich dagegen nur wenige private und ganz augenscheinlich unerfahrenere Verkäufer, mit ihren wenigen Gütern. Sie pressen ihre improvisierten, klapprigen Stände, mühevoll mit Blut, Schweiß und Tränen aus der Hoffnung unerfüllter großer Träume zusammengelötet, an die fensterlose Hauswand des Supermarktes, um noch einen mickrigen Rest Schatten abzugreifen, damit die Master Of The Universe -Puppe, nur noch einarmig, aber sonst tipptopp, nicht am Ende aussieht wie Arnies Doublettenkopf in der Originalversion von Total Recall. Mit Mützen, Hüten und Lichtschutzfaktor 50 geben Sie alles, um der Sonne zu trotzen, dünsten im eigenen Saft leise röstend vor sich hin und wären vermutlich gern wo anders. Hier ist unsere Verhandlungsposition sicher gut, entscheiden wir instinktiv, hier fangen wir an. Ich genieße es, gemeinsam auf die Jagd zu gehen, getrennt zu suchen, gemeinsam zu erlegen. Ich warte immer noch auf den aufweckenden Donnerschlag, aber er ist nicht mal zu riechen. Dieses Maß an Harmonie stresst mich, aber es fühlt sich gut an. Let it happen, old friend. Los geht’s. Wir entern das Oberdeck, die Kühle des Unterdecks soll auch unsere Belohnung werden.
Routiniert scanne ich einen Stand nach dem anderen, seziere Auslagen, beurteile Aussteller und Ware. Mit wenigen Blicken identifiziere ich Potentiale, registriere unerkannte Hochwertigkeit und grenze sie von überzogenen Verkaufserlösvorstellungen ab. Don´t try this at home, we are professionals! Ich erkenne die roten Samtdecken der Profis , und hier sind keine. Auf den Tischen liegt das, was die Menschen nicht mehr haben wollen. Warum sie allerdings glauben, dass es jemand anderes haben wollen könnte, erschließt sich mir nicht. So ziehe ich von Stand zu Stand, desillusioniere meine Vorstellung von der Entdeckung etwas Rares für möglich wenig Bares, werde immer schneller in Scan, Wertung, Haken dran, weiter.
Schließlich ein erster Lichtblick. Auf dem Tisch einer mittelalten Russin, zwischen allerlei glänzendem Tinneff, steht eine Keramikflasche in Form einer hochaufgerichteten, springenden Forelle, aufwändig bemalt in leuchtenden Glasurfarben der Sorte „cheap russian realistic“, das geöffnete Maul dient als Ausgießer, die Schwanzflosse in hoch aufpeitschender Gischt bildet den Fuß. Passend dazu sechs kleine Schnapsbecher im gleichen Stil, eben als besonders kleine Miniforellen bzw. besonders großer Maxiforellenlaich. Herrlich schräg. Ich sehe Wladimir und Michail regelrecht vor mir, wie sie mit Piroschka an der Ölpipeline ums Eisloch sitzen und zum Aufwärmen beim Angeln Grasovska aus der Forelle süffeln. Ich ziehe aufgeregt und begeistert mein Sternchen hinzu und präsentiere meinen genialen Fund. „Nich´ Dein Ernst.“ Zischt der Todesstern eine deutliche Warnsalve vor den Fisch. Trocken, hart und widerstandsnegierend. Danke fürs Gespräch. Ich bin kurz versucht, „Och Männo!“ zu sagen und mir frustriert den Daumen in den Mund zu schieben, aber ich mag ja starke Frauen. Naja, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht wohin mit dem Fischding, und mein Wodka-Konsum ist noch immer nicht messbar, also weiter.
Unsere Blicke sind dauerhaft zu Boden gerichtet. Wie smartphone-Zombies, die auf die Installation von Bodenampeln warten, ziehen wir von Stand zu Stand und betrachten die feilgebotenen Zivilisationsreste, Überbleibsel aufgelöster Keller und ausgezogener Lebenspartner, abgehakter Lifecycle und beendeter Kindheitsnostalgie. Unaufhaltsam saugen die Menschen uns in ihr Leben, zeigen uns mit allem, was sie zwanglos ausgebreitet haben, wer sie sind, woher sie kommen, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Sie drängen uns förmlich auf, ob sie hochwertige Dinge schätzen oder spartanische Bauhausität lieben, ob sie ordentlich sind oder lieber improvisierend den Selbst- und Fremdfindungsherausforderungen des neuen Tages trotzen, ob Sie schon eigene Kinder haben oder noch selbst Dinge besitzen dürfen, ob sie eine Erbschaft versilbern können oder sich von Hinterlassenschaft eines geliebten Menschen trennen müssen. Alles klar zu sehen für jedermann, auf wenigen Quadratmetern Standfläche, dem ausrangierten Spiegel ihres Restlebens, dargeboten als Verhandlungsbasis, ein Guckloch in ihr Leben.
Auf einer einzelnen zerfledderten Decke ganz am Rande des Parkdecks liegen seltsame Sachen. Metallgegenstände, rostig, undefinierbaren Ursprungs oder Zwecks. Dazu alte Bücher und Hefte, dort ein Füllfederhalter, hier ein rundes Irgendwas. Überall liegt irgendwas, und es macht einen sehr unsortierten, schlecht präsentierten Eindruck. Es sieht eigentlich wie Schrott aus. Wie Müll. Ich stutze und hebe zum ersten Mal seit langem in dieser Stunde meinen Kopf. Der Nacken schmerzt, die Sonne tut ihr übriges. Ich will mehr sehen und setze meine obercoole, golden verspiegelte Sonnenbrille ab, die die eine oder andere junge Dame schon mal als „zu Porno“ deklariert hat, die von Männern grundsätzlich gar nicht erst wahrgenommen wird und die entweder, das wäre in der Tat noch zu erorieren, dem türkischen Idealbild einer modisch-optischen UV-Schutzkonstruktion sehr nahe kommt oder schlicht noch unter meinen Welpenschutz fällt. Jetzt sehe ich mich ungefiltert um. Auf der Decke sitzen zwei Jungs, vom Alter her könnten es meine Kinder sein. Doch auch wenn meine es immer wieder schaffen, die weitreichende Kapazitätsanzeige meiner Waschmaschine in den roten Bereich zu schmutzen, weiße Socken mehr als nanosekundentauglichen Abgesang auf deutsche Reinheitswerte begreifen und neuerdings sogar Schmutz der Straße durch Radschlagen und Auf-den-Händen-laufen mit bloßer Hand ins Haus holen, sind sie nie so schmutzig wie diese zwei dort. Im Hintergrund werkelt jemand, der wohl der Vater ist, furchtbar wichtig an ausgelegten Pretitiosen herum, bemüht sie ins rechte Licht zu rücken, während die beiden still nebeneinandersitzen und vor sich hinstarren. Jetzt ist alles klar. Die drei verdienen sich hier, wenn es gut läuft, etwas hinzu, vermutlich aber eher die nächste Mahlzeit. Wieder Zeit, die Perspektive zu wechseln. Jedes Teil vor mir auf der schäbigen Decke ist ein weitere Funken Hoffnung, und zwar nicht auf ein besseres Leben, das wäre viel zu optimistisch und unangebracht, sondern schlicht auf einen bessern Tag oder eine bessere Stunde. Ich bin beeindruckt.
Später treffen wir, unten, im kühlen, gut sortierten Bereich, in der Area der Hobby-Salesmen, mit Samtdeckchen und Klappstühlen, auch auf ein Pärchen, welches an seinem Stand fast ausschließlich Hausschuhe von Hotels und Pensionen verticken will, in denen es offenbar irgendwann mal abgestiegen ist. Alle Hausschuhe tragen das eingestickte Logo der Nobelabsteige und sind noch in knisternde Folie eingeschweißt. Nicht nur, dass die beiden hier offenbar viel reisen und genug Geld für schicke Hotels haben, sie lassen auch noch systematisch und scheinbar ohne ethische Probleme damit zu haben, Hausschuhe mitgehen. Der Kontrast zu den Jungs von oben könnte kaum größer sein, einen Perspektivenwechsel kriege ich diesmal einfach nicht hin, ich scheitere an meiner eigenen mentalen Kapazität, meiner kognitiven Flexibilität im mercatorischen Unterdeck. Schlimm? Möglicherweise. Vielleicht bin ich auch einfach nur dehydriert, jedenfalls brauche ich jetzt viel Zuneigung, Aufbauarbeit und Wasser. Wo bist Du Sternchen, ich habe noch was gut, denn ich hab´ die russische Forelle nicht gekriegt…