
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Ich sitze frustriert beim Arzt im Wartezimmer, es ist Montag Morgen und mein amateurhaft egozentrischer Versuch, die wundersam kombiniert verstopft und triefige Rotznase, den blutigen Nacht-Hust-Rachen, die verquollenen Nicht-Schmacht-Augen und die hoffnungslos dichten Nebenhöhlen zu ignorieren, sind an den besorgten Büro-Kollegen gescheitert, die befürchten, ich könnte sie anstecken. Dabei hab ich doch gar nichts! Und wenn mein Kopf nicht so dröhnen würde und mein Brustkorb vom Husten der letzten drei Nächte nicht diesen üblen Muskelkater auf den Rippen zelebrieren würde, könnte ich es beweisen! So reihe ich mich denn resignierend in die lustige Mischung aus leidvoll männergrippigen und offenkundig arbeitsunwilligen Landmännern ein, von denen mindestens zwei offenkundig eine mächtige post-pilsige-Belastungsstörung zu haben scheinen, die hier in der Gegend, entgegen jeder linguistischen Regel, nicht als typisch männliche Katze, sondern in der Regel als Primatenvariante einsortiert wird. Für alle Nicht-Sauerländer : sie nennen es nicht „Kater“ sondern „Affe“, das kommt eben dabei heraus, wenn man ungefähr so sehr nach zivilisatorischem Kontakt sucht wie die Galapagosinseln.
Sei es wie es sei. Ich falle hier im dunklen Anzug ohnehin aus dem Rahmen, lediglich der mäandernde Zellstoffstrom aus Tempo-Balsam-Tüchern, der sich vollgesogen und zutiefst rotzig aus meiner
Sakkotasche nach draußen arbeitet, zeigt meinem infektiösen Umfeld, dass ich dazu gehöre. Ich hänge in ungesunder, aber glücksam geplant entkrampfender Haltung auf den halb zerfledderten und auf
den baldigen Ruhestand meines oldschooligen Landarztes hinweisenden freischwingenden Design Klassikern und muss an letztes Wochenende denken.
Mir ging es da, als wir Solingens „Zöppkesmarkt“ besuchten, schon keinen Deut besser, aber ich wurde wenigstens noch zumindest zusammengehalten von allerlei Wunderwerken pharmazeutischer
Quaksalberei, von Daymed bis Complex, Revoice und Flam und was sonst noch so zur Verfügung stand. Dass meine Augenlider nur durch sorgsam drapierte Q-Tipps aufgehalten wurden, was ein
Zugeständnis an die durchschnupften, verhusteten und neue Indoor-Toilet-Walk Rekorde in der Kategorie „Ü 40“ aufstellenden Nächte der vergangenen 48 Stunden war, hat außer meinem Südstern niemand
gemerkt. Zumindest hatte mein Herzblatt die unbezahlbare Gelegenheit, mich, ein waidwundes Mannsbild in den besten Jahren, unversehens dahin gerafft, zu Fall gebracht und niedergerungen von
winzigen viralen Invasoren meines individualisierten Mikrokosmos, und dennoch aufrecht und durchhaltend wie der an den Großmast gebundene Odysseus vor der Passage bei den Sirenen, ja gleichsam
wie Ahab am Bug der Peaquod durch das tosende Meer pflügend, beim heldenhaften Kampf gegen die vermutlich tödlichen Krankheitserreger, über Tage und Nächte zu beobachten. Ich hätte die
Übertragungsrechte auch an National Geographic oder Ratiopharm verkaufen können, aber ich wollte ihr natürlich nicht den exklusiven Charakter dieses Spektakels nehmen.
Irgendwie kann Sternchen das momentan nicht so recht würdigen, sie ist schon einige Zeit im Blitze-feuernden Todesstern-Modus und braucht viertelstündliche Kaffee-Infusionen um nicht unvermittelten in semi-komatösen Zwischenschlaf zu verfallen. Naja, wenn sie erst mal wieder ohne Hust- und Schnupfunterbrechungen geschlafen hat, kommt sicher noch die Dankbarkeit, die nur die Beobachtung eines einmaligen, besonderen Spektakels hervorzurufen vermag, ganz bestimmt.
Wir beschließen, eine Eisdiele anzusteuern und so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, denn mein aufgekratzt blutiger Rachen bedarf dringend eines kühlend schmierenden Gelates auf Milchbasis. Wir setzen uns in den überfüllten Außenbereich, mitten in die aus allen Nähten platzende Fußgängerzone, und ich registriere rasch, dass der enorme Andrang an futternden Zöppkesmarkt-Besuchern und klebrig-schlürfenden Eisdielen-Gängern auch die örtlich ansässigen und scheinbar bestens organisierten Wespen-Clans zum Einlegen von Überstunden und Zusatzschichten des Flugpersonals genötigt zu haben scheint, was Sternchen in eben diesem Moment mit einem freudigen Quietschton und einem raschen Sprint zu einem Tisch in gefühlten zwei Blocks Entfernung, bestätigt.
In dem guten Gefühl, dass für heißen Kaffee und bestechende Unterhaltung gesorgt ist, beschließe ich, die „Örtlichkeiten“ aufzusuchen, den Massstabindikator für Reinlichkeit eines jeden Gastronomiebetriebes, bar jeder Betrachtung von Nationalität, Außenwirkung oder Produktgattung. Ist die Toilette in Schuss, kann man auch davon ausgehen, dass die Küche tippitoppi ist, und hier ist alles klinisch rein, getragen vom süßen Duft annährend reinem Alkohols und diverser Zusätze, die nach dem EU-Recht sicher weder ein- noch ausgeführt oder auch nur in der Nähe eines Binnengewässers aus ihrer Verpackung gelöst werden dürfen, hier aber auch den letzten verbliebenen Keim von den semi-antiken Fliesen ätzen und mich ganz entspannt tun lassen, wozu ich hier bin.
Meine geröteten Augen fallen auf ein selbstgemachtes simples Hinweisschild, ein einfach beschriftetes 80g/Qm DIN A4-Blatt, welches dazu auffordert, „Binden im Eimer zu werfen“. Mich amüsiert die sympathische, kleine grammatikalische Niedlichkeit und ich sehe mich um. Nirgends ein Eimer zu sehen, stelle ich besorgt fest. Hm. Nicht so schlimm, atme ich erleichtert auf, denn momentan trage ich ja keine Binde. Ehrlich gesagt, in der übrigen Zeit eigentlich sonst auch nicht. Und im Übrigen ist dies ja auch die Männertoilette und selbst in Italien tragen die Männer meist keine Binden, soweit ich weiß. Die Formulierung "tragen in der Regel keine Binden" verbietet sich hier von selbst, wie ich finde.
Es gibt nach den Gesetzen der Logik folgerichtig nur zwei mögliche Kausalitätsketten, kommt es mir in den Kopf, die zum Anbringen dieses kunstvoll im reduzierten Bauhausstil entworfenen Mikroplakates an genau dieser mit pflegeleichter Keramik unterlegten Stelle geführt haben können : entweder es liegt eine Verwechslung vor und der Zettel sollte eigentlich in die Damentoilette gehängt werden. Dann hängt nun dort vermutlich der obligatorische, metallene Drei-Schacht-Kondomautomat mit Noppengummi, Penisring und Mini-Travel-Vagina für zwei Euro und wartet vergeblich auf seine errigierte Kundschaft.
Oder aber, und das ist die deutlich fortschrittlichere und dem Zeitgeist angepasstere Variante, dieser Zettel ist Ausdruck eines irritiert spontan handelnden, konservativ-klassisch aufgewachsenen Familienbetriebes südeuropäischer Wurzeln, der darauf reagiert, dass jemand die Herrentoilette benutzte, der naja, sagen wir, kein in erster Linie biologischer Mann war, und die/den hier ein monströses menstruöses Problem überkam, anlässlich dessen sie/er ihre/seine Binde loswerden musste. Wegen des fehlenden Eimers geriet der Hygieneartikel dann, notgedrungen mit diversen Lagen Toilettenpapier umwickelt, in die enge Abwassertechnik der Solinger Innenstadt, noch heute vielfach auf dem Stand der 50iger Jahre, führte zu kapitalem fäkalen Rückstau, geruchsintensiver Überflutung der Eisdiele, Verlust von angewiderten Gästen und dringend benötigter Einnahmen, verbunden mit erheblichem Renommé –Verlust und nicht bezifferbarem materiellem Schaden sowie ärztlich verordneten Therapiesitzungen für die mental weniger gefestigten Familienmitglieder, die die Vorstellung einer Kollision mit der Lebensweise dieses so anders lebenden Menschen noch überforderte, und die sie notgedrungen verzweifelt schnellstens die Reise zurück auf die Gefilde südlich der Alpen antreten ließ.. So oder so ähnlich könnte es gewesen sein.
Ich stelle meine Kleiderordnung wieder her und reorganisiere meine Gedankengänge. Dieses Rätsel wird wohl nur gelöst werden, wenn ich auf die Damentoilette gehe. Aber das tut man nicht, ich schon gleich gar nicht. Es muss auch Rätsel geben, die ungelöst bleiben, sonst hätten Mulder und Skully nichts zu tun, und das wäre ja sehr schade. Als ich an der Eisdielentheke vorbei zurück nach draußen gehe, scheinen mir alle wissend zuzulächeln, als wollten sie mir raten, mich nicht auf die Folie zu stellen, wenn ich zum Patrone muss. Ich habe verstanden. Und so behalte ich meine Überlegungen für mich, sammle mein gestresstes Sternchen ein und versäume es nicht, der Bedienung ein ordentliches Trinkgeld zu geben, bevor wir uns ein letztes Mal in die schiebenden und drückenden Menschenmassen einreihen, in denen ich mit meinen Viren sicher so etwas wie eine schmutzige Bombe sein muss.
Aber schön war es, denke ich, als mich die Arzthelferin heraus aus meinen Gedanken und hinein ins landärztliche Sprechzimmer holt. Nächstes Jahr fahren wir bestimmt wieder hin.