
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Melancholische Weihnachtszeit, irgendwie nur nass und kalt, dabei gibt es gar nichts zu meckern, aber viel zu grübeln. Ich wurde, wie schon so oft, von der Straße ausgespuckt, irgendwo im Dreieck Kassel-Solingen-Attendorn. Für mich seit Jahren eine Art mitteleuropäisches Bermudadreieck, also eine mysteriöse geographische Formation, in der ich neben diversen abgefahrenen Reifensätzen der Größe 235 x 18 auch eine größere Anzahl eigener Nervenstränge feinstaubunneutral aufgerieben habe.
Die Verbindung zum Bermuda-Dreieck zwingt sich förmlich auf, warum bin ich eigentlich nicht früher darauf gekommen? Vielleicht, weil es hier obenrum keine vergleichbaren sandigen Inselgruppen gibt und ich auch untenrum nie Bermudas trage, obwohl mir die glockenbefreiende Beweglichkeit dieses Subclothing-Elementes schon des Öfteren angetragen wurde.
Jedenfalls ist auf dieser Strecke im Lauf der Jahre wirklich Einiges verloren gegangen. Zum Beispiel auch meine Leidenschaft für dezente Weihnachtsdekoration. Ich glaube, ich bin der Einzige, der jemals einen inflatable Weihnachtsbaum hatte, bei dem selbst die Kugeln aufblasbar waren. Und nur auf unserer Garage blies sich allabendlich, zeitschaltuhrgesteuert, ein drei Meter hoher winkender Weihnachtsmann auf und lies Nachbarskinderaugen strahlen. Echt? Es gibt Lichterketten mit weniger als 400 Einzelleuchten? Wozu? Tim, der Heimwerkerkönig, Taylor, hat immer gesagt „wenn Flugzeuge in Deinem Vorgarten landen wollen, ist die Beleuchtung angemessen!“ Ach ja, das waren Zeiten…
Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag, und ich habe wieder die berühmte Runde Diesel- und Geschenke-Verteilen gemacht. Nahezu jeder geliebte Verwandte von mir, und, entgegen anders lautender Theorien, sind sie nicht nur deswegen geliebt, weil ich sie nie sehe, ist mittlerweile irgendwie in der Mobilität eingeschränkt. Zum einen, weil sie sich lange Fahrten selber nicht mehr zutrauen, zum anderen, weil Rollatoren auf der linken Spur der meisten bundesdeutschen Autobahnen erstaunlicherweise auch mit nachgerüsteten Blinkern aus dem Zubehörhandel nicht zugelassen sind. Und solange ich meine zarten ledernen Treterchen, die eigentlich Schneeschuhe für den Yeti werden wollten und nun gefangen im falschen Körper sind, noch auf die Pedale schieben kann, werde ich weiter den „Driver“ geben. Karma is a bitch, wir hatten das schon.
Ich habe gerade erstaunlich harmonisches Weihnachten erlebt, wie Kevin home not alone aber ohne Joe Pesci, völlig stress- und streitfrei. Wichtige Menschen haben an mich gedacht und die von mir sorgsam ausgewählten Geschenke erzeugten vice versa leuchtende Augen. Was will man mehr? Ich habe richtig damit zu tun, das just Erlebte einzusortieren und bin sichtlich angestrengt dabei, auf „Genießen“ umzustellen.
Dabei wäre mir fast etwas Bemerkenswertes entgangen : offenbar hat die türkische Community, unbemerkt von der hiesigen alemannischen Ursuppe, einen voxfreien internen „The Baum of Germany“ Wettbewerb initiiert, dessen mächtige Bling-Bling-Attitüde im strengen Gegensatz zu den deutschen „das ist doch noch gut“-Weihnachtsbäumen mit Schmuck vom Dachboden steht. Während deutsch-saisonale Schmuck- Bäume, streng sachlich reduziert auf ein geschmücktes mittelgroßes Nadelholz im heimischen Wohnzimmer, mit wenigen Kugeln und Sekundärhängern einen formidablen Kontrast zu ihrem frischen Grün der just verlassenen Sauerlandschonung bilden und dabei einen geradezu protestantisch schmucklos reduzierten religionsinitiierten Präsent-Präsentationsüberbau abgeben, gehen die Türken offenbar ganz anders an das Thema heran.
Nun sind die Türken ja überwiegend muslimisch und der eine oder andere wiedergewählte EU-Vorführer fiel sogar schon mal mit explizit unchristlichem Verhalten auf, während man das von den meisten hier aufgewachsenen Türken sicher nicht sagen kann, sofern die oft belächelten Kartoffeln im Laufe der Kindheit Gelegenheit hatten, modernen freiheitlich gelebten Eindruck zu hinterlassen. Was wiederum voraussetzt, dass es heutzutage überhaupt noch die eine oder andere moderne freiheitliche Kartoffel in Deutschland gibt. Beim versehentlichen Umschalten auf RTL2 kommen einem da schon mal Zweifel, aber das ist ein anderes Thema.
Jedenfalls könnte der erstaunliche Hang zum geschmückten Weihnachtsbaum bei Deutschtürken in der Tat offenkundig nicht aus religiösem, sondern kulturellem, traditionsgespeistem Ursprung stammen und sich von Generation zu Generation weiter massiv ausufernd verdichtet haben. Das müssen echte Gelehrte herausfinden, ich ziehe mich nach dieser gewagten These dezent zurück. Fest steht : logisch konsequent kommen sämtliche tradiert-gelebten Erfahrungswerte zu verschiedenen Goldlegierungen, kristallenen Kronleuchtern ab einem Meter Durchmesser und Dekorationsparameter für Feierlichkeiten jenseits der fünfhundert Gäste, zum Tragen und unterfüttern erfolgreich das vom Wettbewerbsgedanken getragene Vorhaben.
Und so kommt es, dass der türkische Weihnachtsbaum, eine in der Regel kolossale Innenraumtanne erster Güte, entweder ökologisch unmotivierten Echtholzursprungs, oder aus ebenso ökologisch unmotiviertem, aber mit Langlebigkeit argumentiertem, Edelpolypropylen, ganz offensichtlich keinen eigenen anderen qualitativen Merkmalen zu entsprechen hat, als Tragfähigkeit, Belastbarkeitsindex und Zugstärke. Denn die türkische Variante des „Christbaums“ wird in der Tat mit derart vielen kleinen, großen, mittel- und übergroßen Kugeln, Hängern, Figuren, gläsernen Schneeflocken, Schaukelpferden, Lichter- und Glasperlenketten und ähnlichem behängt, dass die hintergrundliefernde Urfarbe des derart umfassend behängten Baumobjektes nur noch anhand der kegelartigen Grundform erahnt werden kann.
Während sich die bemittleidenswerten Äste eigentlich immer bedrohlich biegen wie ein frisch bestückter horizontaler montierter Dönerspiess vom Holzkohlegrill, ist es sicher ratsam, vorab einmal proaktiv die eigenen prall gefüllten Kartons mit gehortetem Baumschmuck auf einer ortsnahen LKW-Waage gewichtsmäßig bestimmen zu lassen, oder wenigstens einen erfahrenen studierten Baustatiker zu Rate zu ziehen, bevor hunderte einzelne Schmuckobjekte ihren Weg zwischen die eng behängten Zweige finden.
Das entstehende imponierende Bling-Bling gilt vielen Menschen weltweit als tief spirituelle Inspiration und soll auch dem unter Trump nicht eben dezenter gewordenen Weihnachtsstil des Weißen Hauses als leuchtendes Vorbild dienen, sagt man. Von Deutschtürken ausrangierte Vorjahresbäume zieren angeblich die Gästehäuser von Vladimir Putin und den Kardeshians - vorstellbar ist dies ganz sicher. Dagegen ist der hinter vorgehaltener Hand geäußerte Verdacht, hier kämen nur nachpolierte Mercedes-Sterne und Shisha-Aufsätze als Dekoration zum Einsatz, nur eine niederträchtige Theorie missgünstiger Neider.
Einziges No-Go sind jedoch tatsächlich unverständlicherweise Teddybären aller Art, die an deutschtürkischen Weihnachtsbäumen schwieriger unterzubringen sind als befreite rumänische Tanzbären im Bärenpark Müritz.
Es empfiehlt sich übrigens, ältere Menschen, Kranke und kleine Kinder schon während der Aufbauphase eines türkisch geprägten Weihnachtsbaumes mit Sonnenschutzgläsern auszustatten um Glitzerfolgeschäden an der gestressten Netzhaut zu vermeiden. Genauso gut kann man aber auch, ein cleverer Trick aus deutschen Baumärkten in Gegenden mit hohem Zulauf weihnachtlich ambitionierter Deutschtürken, den ohnehin zwangsläufig professionell umfassend eingerüsteten Schmuckbaum mit umgedrehter Sonnenschutzfolie oder einseitig lichtdurchlässiger Aluminiumfolie ummanteln.
Hier fühle ich mich verstanden. Das mitteleuropäische Bermudadreieck hat etwas essentielles da gelassen, als es mich dieses Jahr kurzfristig aus den Fingern ließ: Weihnachten, das Fest der Liebe, sollte nicht dezent sein, sondern das großartigste Gefühl, das es gibt, lautstark feiern. Und wenn das interkulturelle Dissen nicht mehr durch das, durch die runtergekurbelte 3er-Scheibe gebrüllte „Ich f…e Deine Mutter!“ , und ein ebenso energisch entgegnetes „Draußen nur Kännchen!“ , sondern liebevoll kümmernd auf Whatt`s App und Facebook geteilte, sich gegenseitig übertreffende Baumphotos geschieht, dann sind wir deutlich einen guten Schritt voran gekommen.
Gehen wir in den Dialog, wechseln wir die Perspektive. Schauen wir uns mal an, wie sie es machen. Und dann pimpen wir nächstes Jahr unsere kartoffeligen Christbäume, dass die GroKo nicht mehr weiß, wie die Energiewende an Weihnachtstagen umgesetzt werden kann. Wir lassen die ökologisch korrekten Windräder kreisen, bis der letzte Rotmilan gehäckselt ist, um unsere Lichterketten und Kunstschneekanonen mit Strom zu versorgen. Unser Bedarf an von armen asiatischen Minderheitenkindern mundgeblasenen Christbaumkugeln mit Quecksilberglanz wird die einzig nötige wahre Begründung der neuen Seidenstraße werden.
Und dann bündeln wir unsere Synergien und schmücken gemeinsam. Denn deutsch-türkische Harmonie ist erstaunlich intensiv, aufrichtig und absolut empfehlenswert.