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Coastguard First Flush

Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Weihnachten ist vorbei. Silvester ist vorbei. Und es war alles ungewohnt harmonisch und unangestrengt, ich könnte mich daran gewöhnen, zumindest privat.

Das typische, seit dreißig Jahren gewohnte Jahresendgeschäft hat mich ein weiteres Mal in einem Dezember beruflich überdurchschnittlich geschlaucht. Diesmal erzeugte der unterjährig höchstpersönlich aufgestaute Potentialtsunami, (oder wie man es auf der Achse Coswig-Albstadt in seltener Harmonie nennt : "die Welle"), zuletzt maximal erschöpfende Beratungstage mit bis zu 16 Kundengesprächen in Folge. Jepp, ich bin eine echte Vertriebssau.  Allerdings gefühlt auch kurz davor, jenen Punkt zu überschreiten, an dem das Fleisch der Sau übersäuert und das Vieh nicht mehr geschlachtet werden kann. Mein Bacon ist bald drübber. Zeit für eine Pause.

Und so machen mein eruptives Südsternchen und ich uns straight auf nach Norden, ins weite, flache Land von Störtebeker und Voscherau, Bohnsopp und Granat. Zum ersten Mal nur zu zweit und ohne Kinder, es schwingt immer ein Hauch von latenter Besorgtheit und unterdrücktem schlechtem Gewissen mit, aber alle sind bestens versorgt und wir müssen beide dringend auftanken.

Wir sind jetzt und hier absolut außerhalb der Saison, alle üblichen touristischen Devisenmagneten haben radikal geschlossen, es ist überall dicht. Aber so wollten wir es ja haben. Keine überteuerten Fischbrötchen aus importierter TK-Ware die jemand im gestreiften Fischerhemd original regional zertifiziert aufgetaut hat, keine heimischen Cafés mit adaptiertem  Starbucks-Preisniveau und Draußen-nur-Kännchen-Flair, keine familienfreundlich kalkulierten Souvenirshops mit den dringend benötigten Robbenbaby-Schlüsselanhängern aus unveganer , bio-chinesischer, kunstfellersetzender Straßenköterpelz-Verwendung.

Und so ziehen wir durch die leer gefegten, sonst elfmonatig überlaufenen, Neuharlinger-, Carolinen- und Bensersiel, haben dramatisch freie Sicht auf die architektonischen Kleinode im Stil von „Klein Amsterdam“, wie Sternchen es nennt, und bewundern die ruhig vor sich hin schaukelnden ruhenden Kutter in den schmalen historischen Häfen. Über allem weht der beunruhigende Hauch einer Steven-King-Verfilmung, nur Eingeweihte wissen, dass es weder einen Ebola-Ausbruch noch eine atomare Katastrophe gab. Selbst die Möwen kreischen heute nicht, sie hatten alle ihren routinemäßigen Therapeutentermin und haben jetzt akzeptiert, dass sie lernen müssen, ein vorübergehendes Leben ohne Tourismusreste für sich zu akzeptieren.

Was ich zunächst für ein romantisch einsam klingendes „Ping“ einer Hafenbojen-Glocke halte, die sich friedlich in der leichten Dünung wiegt, entpuppt sich dann doch tatsächlich als meine persönliche Ankoppelung an die digitale Welt, powerd by Huawei. "Ping!" Es ist das Facebook-Messenger-Signal, dass sich derart einen Wolf klingelt, dass man glauben könnte, die wieder renaturiert durch Deutschland streifende Schafreißer-Population habe wackersteinfrei die nördlichen Deiche erreicht.

Was war los? Nun ja: Ich hatte gedacht, es sei eine gute Idee, bei Facebook und WhatsApp einzustellen, dass es uns gut geht und wo wir sind. Und dabei völlig unterschätzt, wie viele gute Sightseeing-Tipps von netten Menschen uns erreichen würden. Menschen, die allerdings keine Vorstellung von dem uns umgebenden schwarzgrauen „Nichts“ bei Windstärke 3 haben. Am verwaisten Strand haben beherzte Kegelrobben versucht, UNS zu retten, Leute!  Hier könnte man die A4-großen 80g-Papier Schilder mit „Betriebsferien“ aneinanderreihen und so trockenen Fußes bis Langeoog laufen, Freunde! Ja, das tolle Café, in dem Du letztes Jahr warst, hat auch zu... Nein, die coole Kneipe hat nicht offen... Und der geile Fischbrötchengeheimtipp wird vermutlich endlich mal gekärchert, statt aus den die „5 Sekunden!“-Regel überschreitenden bodenbedeckenden Resten die berühmten selbstgemachten Fischfrikadellen zusammen zu löten.

Ich finde mich analog-romantischen Döskopp in einem ungewollten friesischen social-media-Stress-Tiefdruckszenario wieder, drohe abzudriften und Sternchen die nötige Aufmerksamkeit vorzuenthalten. Dabei wollte ich doch diesmal alles besser machen und Fehler der Vergangenheit zumindest nicht bewusst wiederholen. So wie ER es uns in „Generations“ beigebracht hat: Toast, Rührei mit Dill und dann mit festem Plan die Treppe rauf und die zweite Chance möglichst beherzt wahrnehmen. Gut, ich habe kein Schiff, nicht mal ein Schlauchboot, und bin schon gar kein Captain, auch  Porthos war in diesem metaphorischen Bild sicher kein tiefergelegter Butler, und hat vermutlich ohnehin jetzt seinen persönlichen Nexus gefunden, aber nennt mich ruhig Jim. Das wird sicher ein Spaß!

Total bewusst fokussiert schalte ich also das nervende Handy aus und überprüfe vorsichtig, ob ich in meiner Eigenschaft als Hobby-Vulkanologe möglicherweise Anzeichen einer drohenden neuen Eruption übersehen habe. Aber Sternchen sieht glücklich aus und lehnt lässig an einer Mole. Kein schwefelhaltiges Wasser, keine Rauchwolken, kein strafender Blick. Sieht gut aus. Pyroklastische Ströme wären jetzt kontraproduktiv und dem romantischen Umfeld nicht angemessen. Mir drängt sich trotzdem die Frage auf, ob "Dante's Peak" eigentlich am Bosporus gedreht wurde, aber wir drehen hier in unser friesisch romantisch verklärten Version des Fischernests Gloucester eher die B-Story von Bobby und Christina aus "Der Sturm", es ist tatsächlich gerade ALLES gut. Klopf, Klopf.

Wir entern ein respektables Hotel direkt am Hafen, die einzigen beleuchteten Fenster ziehen uns an. Dessen Restaurant hat als einzige Fütterungsstelle noch offen, offenbar essen hier neben den wenigen Hotelgästen auch die daheim gebliebenen Einheimischen. Das ist ein gutes Zeichen. Kurz die Handys gecheckt – nix von den Kindern? Dann zurück damit in die Taschen. Wir bestellen landestypisch Jever Pils und schwarzen Tee, Fischsuppe und Brathering mit Bratkartoffeln und kriegen richtig gutes Zeug, das uns wärmt, sättigt, beruhigt und zutiefst befriedigt. Draußen vor den Fenstern ziehen vereinzelte Jack-Wolfskin-Pärchen undefinierbaren Alters vorbei, sonst ist weit und breit nichts zu sehen. Irgendwo pfeifen ein paar Wattwürmer einsam ein Lied von der Südsee und ein paar patriotische Möwen kacken auf das einzige Auto mit gelbem Kennzeichen. Sonst ist nichts los.

Wir beide sprechen gerade nicht viel. Es ist auch nicht nötig. Wir sind ganz bei uns. Und meilenweit weg von all dem Stress zuhause. Mein Blick schweift herum.

Vorn im Gastraum befindet sich eine rustikale Hotelbar, an der zwei Männer reiferen Alters stehen, einer davon offenbar der Inhaber, beide aber eindeutig bereits am frühen Nachmittag in einer beginnenden Pegelbetankung auf dem Level der Norwegian Breakaway. Sie sprechen ungefiltert überdreht und etwas zu laut, ich kann nicht anders und höre mit. „Die hamm' doch alle von Tuten und Blasen keine Ahnung!“ tönt der Eine, den ich für den Inhaber halte. Es folgt eine zustimmende akustische inhaltslose Nick-Orgie seines Gegenübers. „Außer vielleicht die Von-Der-Leyen, die schon.“ Fährt er fort, „die hat sieben Kinder, die kann mit Sicherheit blasen!“ .

Ich stutze, und glaube mich verhört zu haben. Ich sehe mich um. Sternchen ist in Gedanken, dreht scheinbar ihr eigenes „CSI Carolinensiel“  und seziert genussvoll den Brathering. Doch das Rentnerpärchen am Nachbartisch hat entweder gerade BigFoot beim Liebesspiel mit dem Klabautermann gesichtet, oder das Gleiche gehört wie ich. Sie haben hervorquellende Augen wie ein zu fünfzig Prozent von einem Caterpillar überrolltes Frettchen, ungesunde Wangenröte und akute Schnappatmung.

Der einseitig peinliche Monolog geht weiter: „Wenn die Merkel morgens erst frühstückt, hat die Ursula bestimmt schon das erste Mal…“ weiter kommt er nicht, ein strenges „Pssst!“ seines Gegenübers nordet ihn situationsrettend ein. Schade, ich hatte es gerade als ‚friesisch-herb‘ eingestuft und begonnen, Spaß zu haben. Aber Sternchen hat es ohnehin nicht mitgekriegt, sie zelebriert noch immer das neu entdeckte hervorragende Zusammenspiel von besonders heiß und ehrlich dargebotener Kartoffel und ordentlicher  südländischer Schärfe und ist sichtlich zufrieden, so wie ich auch.

Und deswegen sind wir ja hier.