
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Sturm Sabine ist abgezogen. Ich muss tatsächlich ein wenig einkaufen und die während Sabines Südwestfalenfeldzugs inhäusig verbrachte Vorratskammer.-Notversorgung wieder auffüllend in gewohnt abrufbare Leistungsfähigkeit versetzen. Als ich den Discounter betrete, ist es die magischevZeit des Zwielichts, wie es bei „Herrschaft des Feuers“ so trefflich heißt, jene Zeit, in der die noch umherirrenden Konsumenten ihre Umgebung nicht richtig wahrnehmen. Sie sind schon halb zu hause und noch halb auf der Arbeit, sie wollen schnell etwas besorgen und achten nicht auf die anderen „walking dead“ zwischen vorgereiften schwarz-braunen Bio-Avocados der Sorte „Hass“ , die übrigens nicht ursprünglich aus Sachsen kommen, wie man meinen könnte, und pseudogefüllten, nur natürlichen, Maggi Fix-Tütchen für den oberflächlich täuschbaren Ökokunden mit RTL2-Habitus. Zusammen allein sein geht hier gar trefflich, meine Lieben.
Für mich hat ein simpler Supermarkt an einem verregneten Abend immer schon etwas therapeutisch meditatives, ich rolle meinen silbrig glänzenden Lastkorb durch die Industrieregale wie ein dementer alter 27jähriger seinen Outlaw-Rollator durch die Dessousabteilung im KaDeWe : es ist zwar wunderschön so zu flanieren, trockenen Fußes und mit dem leichten Säuseln der Klimaanlage im Hintergrund, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich hier eigentlich will.
Und so entdecke ich ständig Neues, lese Ettiketten, vergleiche Preise und Packunsgrößen und freue mich über Sondereditionen von hochindustrialisiert verarbeiteten Produkten, die Lebensmittel täuschend echt nachahmen, wie über unmissverständlich ehrlich blitzende Sternschnuppen an einem klaren kalten Abend an der Herkules-Statue im Kasseler Bergpark.
Von der Kühltheke am Wendekopf des Konsumareals, quasi dem „point of no return“; von dem aus eine Umkehr und ein Wendemanöver des Wigger immer mit schmähenden Blicken der parasitären Mitkunden bedacht werden, kommt Kindergetöse. Zwei kleine Mädchen spielen miteinander, sie mögen vier oder fünf Jahre alt sein.
Süß. Und laut. Süß, ja. Aber vor allem laut. Sie haben die friedliche Stille meines kühl gefliesten Konsumtempels annektiert, besetzt wie chinesische Truppen mein allerheiligstes tibetanisches Friedenszentrum. Ihr Papa ist weiter vorn in das Studium irgendwelcher Käseaufdrucke vertieft und offenbar mit dem Vorgefundenen nicht zufrieden. Er schaut kritisch auf die schreiend bunten Blister. Vielleicht wurden die veganen BIO Schafe des mediterranen Ziegenkäses vorher nicht gefragt, ob sie auch mit der Abgabe von Kuhmilch einverstanden wären, wenn sie mit Alpengras gefüttert werden, dass ausschliesslich per Bahn heran geschafft wird, wer weiß.
Die Mädels jedenfalls sind klasse. Eine verhärmt über die Brille linsende Rentnerin mit einer Packung trockener Erbsen im Wagen interessiert sich so offenkundig keine Bohne für die beiden, dass ihre Ablehung geradezu dramatisch offensichtlich ist. Ich finds großartig und vergesse fast, etwas Käse zu kaufen.
Die Kleinen icksen und kichern, lachen und machen Blödsinn, dass es eine Freude ist. Es ist ein bisschen, als hätte ZDFs Oberlehrer Lesch im Smörreland den Stöpsel aus dem Bällebad gelassen, damit wir alle sehen können, wie wir früher waren. Ich fühle mich an meine beiden Kinder erinnert, denen ich immer beigebracht habe, dass es nicht schlimm ist, laut zu sein. "Schlimm ist es nur, wenn ANDERE so laut sind, dass es UNS stört." Das schränkt nämlich unsere Lebensqualität ein, ist doch logisch. Selbst laut zu sein ist vor allem für Kinder oberste Bürgerpflicht (Bürgerinnenpflicht/Sich-Bürgernde-Pflicht). Punkt.
Ich ziehe selig weiter und grinse ein wenig. Und das immer ein wenig mehr, wenn ich merke, dass es jemanden aufregt. Eben die mittelalte stumme Türkin mit Kopftuch, dann den verrauchten grummeligen Rentner mit dem Sixpack Dosenbier, jetzt die streng blickende Blonde mit den Reiterstiefeln, die aussieht, als würde hier ein neuer Teil von „Species“ gedreht.Nur die beiden mit ihrem Papa nicht. Exzellent. So soll es sein.
Sie sind weder frech noch unartig und benehmen sich wie Kinder. Ich feiere die Kids samt Papa und biege in die Tiefkühlabteilung ab, während die drei zur Kasse weiterziehen.
Als ich meinen astralen Oberkörper gerade bis zur rechnerischen Bruchmitte über den rabattierten Mehrkornkrusten-Fischfilets hängen habe und mein Körper kurz davor ist, wegen Unterkühlung die ersten nicht lebensnotwendigen Systeme abzuschalten um die essentiellen Elemente (vorrangig die für das Steuern einer Fernsehfernbedienung gebrauchten Finger der rechten Hand) aufrecht zu halten, höre ich plötzlich nichts mehr von den Mädels. Durch die Kasse können sie noch nicht durch sein, ausgeschlossen.
Als ich um die Ecke biege, sehe ich was los ist und muss unweigerlich grinsen.
Ich erinnere mich an früher. Sehr viel früher. Im Fernsehen, wir sprechen von der Zeit VOR den Privatsendern, den Abenden mit Sendeschluss und Bildrauschen (welches übrigens Nick Rhodes von Duran Duran seinerzeit leidenschaftlich gern fotografierte) wurde zum ersten Mal „Alien“ gezeigt, umd der kleine Axel saß gespannt allein im Wohnzimmer. „Also“ sprach die Frau Mama „ich geh´ fort und du bleibst da!“ Es war wohl so gegen 23.00 Uhr, als das genesene Crewmitglied sich rücklings auf den Kantinentisch legte und der Chestburster sich lautstark einen Weg von innen nach außen durch dessen Brustkorb bahnte.
Für den kleinen Axel wäre das auch so schon schockierend genug gewesen, doch ich hatte kurz zuvor, so gegen 22.50 Uhr, die großartige Idee, mir noch einen Teller Tomatensuppe dazu zu holen, schließlich war es spät, keine Eltern in Sicht, und man kann es sich ja mal gut gehen lassen.
Die Kombination aus spärlich beleuchtetem einsamen Wohnzimmer, blutrot leuchtender Tütensuppe und dem aufgebrochenen Solar Plexus auf dem Bildschirm haben mächtig Eindruck gemacht. Und mit dem ersten hörbaren Schrei des Aliens war ICH jedenfalls fertig. Eine geläuterte kleine Kinderseele, bereit ab sofort Hausaufgaben regelmäßiger zu machen und gelegentlich unaufgefordert im Haushalt zu helfen. All das hätte man in diesem Moment aus meinem käsebleichen Kindergesicht mit dem roten Blutmund ablesen können.
Und genau diesen Gesichtsausdruck, Sinnbild innerster Zerrissenheit, urgewaltigen Schocks und Verbildlichung der verzweifelten Suche eines Fohlens nach der mütterlichen Zitze, quasi mimisch einnehmende Fötushaltung, sah ich nun in den Augen eines der Mädchen, während das andere sie unverständig ob der ausbleibenden Bespassung anstarrte.
Die größere der beiden stand parallel zum Kassenband und starrte auf die Fläche von geschätzten drei mal ein Meter gut sichtbar platzierten Zigarettenpackungen. Blutige Wunden, sterbende Herzinfarktspatienten, schwarze Lungenflügel und abgestorbene Gliedmaßen. Dramatisch schaurig dargeboten wie eine Führung durch Londons Tower (was übrigens keine Kondommarke ist, wie man denken könnte).
Das kleine Kinderhirn war hoffnungslos überfordert und unfähig, das Gesehene zu verarbeiten und hatte deshalb jegliche kindliche Aktivitäten eingestellt. Da würde Papa noch einiges aufzuarbeiten haben, das war klar.
Ich habe eine Weile überlegt, warum wir die Raucher an öffentlichen Plätzen in gelbe Quadrate stellen, auch warum wir bestimmte Filme mit FSK Labeln überziehen und unzugänglich machen und dann doch daran scheitern, unsere Kinder vor solchen Eindrücken zu bewahren. Vielleicht härtet das ja ab und hilft in der kapitalistisch ellbogenbewehrt geprägten Aufzucht. Vielleicht ist aber auch einfach nur „Gut gemeint“ das Gegenteil von „Gut“.