
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Sternchen und ich treiben das Patchwork Prinzip auf die persönliche Spitze und sind mit drei Teenagern auf der
Rückbank und einem im Pre-Bersten-Modus gebunkerten Caravan-Trunk urlaubsreif in Wilhelmshaven angekommen. Dank wochenlangen Vorbereitungen, die gut und gerne eine 8,9 auf der interkulturellen
Prepper-Skala bringen würden, stehen unsere Chancen ganz gut, finden wir.
Jedes der Kinder hat mindestens ein eigenes Bett und es gibt stabiles WLAN. Wir sind in Strandnähe und haben Reiseführer-getestete B-Programme für Regentage. Für
jeden zwangsgechillten Reisegast aus Reihe 2 gab es einen individualisierten coolen Strandbeutel mit Gummibärchen, Chips, Keksen und Bifi. Dazu zur mentalen Stimmung und Reife farblich passend
abgestuft gewählte fabrikneue Nackenhörnchen für die anvisierte Reisedauer von 3,5 Stunden. Eine Rückbankmittelsitzbelegungsregel soll Pobacken, Nerven und Gerechtigkeitsempfinden schützen.
Ebenso gibt es einen Hausarbeitenverteilungsplan mit raffiniert ausgeklügeltem Farbkonzept.
Wir sind vorbereitet! Der Rest liegt in Gottes Hand.
Nun ist Gott ja allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach eine Frau, jedenfalls legt der regelmäßig angewandte harte Humor dies nahe, Karma eine Bitch und wir auf
einem Außenposten von Rura Pente, was umso stranger erscheint, wenn man bedenkt, daß Rura Pente selbst ein Außenposten ist....dieser Außenposten ist ein ganz spezieller und er liegt in
Wilhelmshavens Ölhafendamm Nummer 2.
Wir haben zwei der Kids in der Ferienwohnung abgesetzt und machen uns zu dritt auf, um Lebensmittel einzukaufen und die obligatorische Grundversorgung
herzustellen. In fussläufiger Nähe findet sich zum Glück ein Netto. Nun ist Wilhelmshaven weiträumig innerstädtisch nicht besonders ansehnlich, was vermutlich auch eine zwangsläufig Folge ist,
wenn man zu Kriegszeiten den Großteil der Marine beheimatet und sich so quasi ein Zielkreuz auf den Rücken malt. Nun denn. Da es in den heutigen Chefetagen moderner Discounterkonzerne nur noch
hippe sophisticated vegan Yuppies zu geben scheint, wurde dieser spezielle Markt ganz offensichtlich perfekt an die ihn umgebende heruntergekommene umgebende Biosohäre angepasst und überrascht
mit einem typisch friesisch herben Abbeiz-Charme und einem Mix aus Unordnung, nachhaltig verinnerlicht fehlendem Servicegedanken und gelegentlich durch die überall verteilt liegenden
Kohlrabiblätter und Umkartons frech hervor bltzenden Rostinseln. Ein im Mittelgang strategisch wertvoll platzierter Werbeständer der Marke "O. B." bildet erfolgreich den schiefen Turm von Pisa
nach und lädt zum Diskutieren der gleichnamigen Studie und ihrer mittelbare Wechselwirkung auf bildungsferne Schichten ein.
Ich bin regelmäßiger Netto-Kunde und erkenne das zugrunde liegende standardisierte Organisationsschema sofort wieder. Dennoch ist alles anders. Hinzu kommt, dass scheinbar vor kurzem eine neue Lieferung kam, denn überall in den Gängen stehen hoffnungsvoll überladene Rollcontainer mit Gütern herum. Zum Glück stört das niemanden, jedenfalls nicht vom gechillt schnackenden Personal. Nun ja. Man muss die armen Leute ja auch vor Überlastung schützen, nicht wahr?
Der eigentliche Clou ist eh das faszinös morbid charmante Publikum, welches sich multilingual mit uns durch die Alamo-Gedächtnis-Barrikaden der radikal
verstellten Gänge quetscht, immer bemüht, den Corona-- Mindestabstand zunächst von Euro in D-Mark umzurechnen, dann durch die Wurzel aus Pi zu teilen und schließlich wegen Unerheblichkeit
vorübergehend konsequent zu negieren. Immerhin schieben wir ja alle einen Zwangsabstands-Einkaufswagen vor uns her, wieder so eine perfide Idee von Bill Gates vermutlich.
Um die Ecke mit den Kopfsalaten zirkelt eine bauchfrei be-minirockte zierliche und trotz Mund- Nasemaske sichtbar hübsche Russin mit ihrem belanglos gelangweilten Freund vom Typ "Lada Vesta-Testfahrer" und palavert auswärts. Ich verstehe nur "Chili" und stelle überrascht fest, dass wir das Gleiche suchen, die Kleine und ich. Ich beschließe, es wie sie zu machen und beobachte ebenfalls ihren Freund, wie er nach den roten Schärfebringern sucht. Als er ohne Erfolg wieder bedröppelt bei ihr ankommt, habe ich einen Weg gespart.
Im ersten Gang cruised mich eine langschrittig unentspannte verhärmte Kettenraucher-Blondine mit auffällig schlecht gemachten Tattoos eines undefinierbaren Alters
fast über den Haufen, vermutlich auf der Suche nach neuen Batterien für ihren "Vibro-Lustpen 2000" oder vergleichbar einsetzbarem Stangengemüse. Sie sieht wirklich unentspannt und grimmig aus.
Ein gehbehinderter älterer Herr mit etwas muffiger Cordsofa-Aura überholt mich rasant wie ein Regenwurm bei einsetzenden Morgentau, nur um dann unvermittelt vor mir zu stoppen um mit seiner
Lesebrille Marke "Weck +5" unterschiedlichste Joghurtbecher hin- und herzuschwenken und wissend unverständliche Zutatenlisten zu rezitieren. Das erspart mir allerdings den drohenden Zusammenprall
mit dem unrasierten übertätowierten Mitt-Fünfziger, der, deutlich schlechter bezahnt als ein durchschnittlicher mitteleuropäischer Kita-Inmate, entgegen der Laufrichtung unterwegs ist um ganz
bestimmt etwas unheimlich wichtiges zu erledigen. Jedenfalls sagt sein Blick dass es hier heute für Umme eins auf die Fresse gibt, in echt jetzt.
Dann wären da noch das Pärchen aus ungepflegtem Mitt-Dreissiger und demütig devoter übergewichtiger Zufallsflamme ohne Zukunft und ein augenscheinlich unterdosierter Hobbykiffer, ebenfalls entgegen der Laufrichtung unterwegs und vermutlich so orientierungslos, dass er heute Nacht erschöpft zwischen den H-Milchkartons einnicken und vom motivierten Personal versehentlich eingeschlossen werden wird.
Ausgesprochen stranges Publikum... Ich sammle die erfolgreich von der Jagd heimkehrenden Sternchen und Töchterchen ein und bugsiere unsere dezent über fünf Meter lange Gelenkbus-Erinnerungs-Karavane aus Einkaufswagen Richtung Kasse. Wir bezahlen und verlassen den seltsamsten Ort seit Langem, nicht ohne noch lange über das ungewohnte Publikum und die herunter gewirtschaftete Location zu grübeln.
Am nächsten Tag lockt der Strand, als Sternchens Tochter auf der gegenüber unserem Ferienhaus liegenden Straßenseite, auf der ein hoher Zaun ein älteres,
mehrstöckiges Gebäude umgibt, ein Schild entdeckt, welches die Passanten anweist, "Gespräche mit den Insassen zu unterlassen".
Echt jetzt? Jepp. Unsere Nachbarn sind Knackis. Bis zu 77, wie Google schnell klarstellt. Offener Vollzug, nur die Hoffnungsträger.
Und damit ist auch klar, woher das homogen untypisch kollaborierende Nettoklientel diffundiert ist, denn es ist durchaus nicht unüblich, sich nach der Entlassung
in der Nähe des letzten erfassten Wohnsitzes niederzulassen, wo man in den letzten, maximal vier Jahren, Sozialkontakte geknüpft hat und den Weg zur Arbeit- und dem Supermarkt- kennt.. Jetzt fügt
sich alles zusammen, was mich mit einer gewissen Zufriedenheit ob des verbesserten Wissensstandes ausstattet, während meine Ladies sich, ungewohnt verunsichert, nach einer starken männlichen
Schulter umsehen und nun natürlich nur an meinem Sohn und mir hängen bleiben, die wir allein dem gefahrenschwangerem Charme zwischen "Sons of Anarchy" und "Prison Break" erlegen sind und
tatsächlich interessiert eine mögliche Besichtigung diskutieren.
Des Nachts genießen wir die intensive Beleuchtung der. gegenüberliegenden Aussenanlagen nun mit ganz anderen Augen.
Ins Netto gehen wir aber erstmal nicht mehr, zwei Orte weiter gibt's ein Edeka, ist ja auch was!