
Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement.
2020 geht wohl als eines der kontaktlosesten Jahre in die jüngere Geschichte ein. Ob wir wohl einen erneuten dramatischen Geburtenrückgang kriegen, weil die Menschen weniger fummelige Partys feiern und sich seltener näher kommen?
Karneval, die Zeit, in der man sich üblicherweise verkleidet als jemand, der man nicht ist, um sich zu benehmen wie jemand, den man nicht grüßen würde um dann jemandem die Zunge in den Hals zu stecken, den man morgen nicht mehr kennen wird, ist ebenfalls für dieses Jahr passé . In Köln zum Beispiel kontrolliert die Polizei scharf die Einhaltung der Maskenpflicht und im Wabern der schunkeligen Aerosolwolken verschwimmen die Grenzen zwischen Corona- und Karnevals-Hotspot.
Werden wir ehrlich besinnlich. Oder mit den Worten des amerikanischen Einwanderersohnes John Francis Bongiovi jr , besser bekannt als Jon Bon Jovi : „Although I'll keep my social distance, What this world needs is a hug“.
Nähern wir uns jetzt der kuscheligsten Zeit des Jahres. Hoffnung keimt auf. Vielleicht kriegen wir ja doch eine Umarmung, einen Drücker, einen Schmatzer und ein Lächeln? Vielleicht zumindest virtuell, das Zauberwort in diesen Tagen. Virtuell.
Selbst unser sonntäglicher Ansitz auf dem Fenstersims wird vorweihnachtlich zugig zum virtuellen Ereignis, lässt sich die Nachbarschaft doch voll umsorgt gar festlich und zur eigenen seelischen Erbauung observieren. Während draußen die Winde durch die kahlen Äste der Bäume heulen, betrachten wir die Szenerie. Das Mütterchen von nebenan dick eingemummelt dem horizontal einpeitschendem Regen trotzend, gönnt gerade dem mit meterlangem Stammbaum ausgestatteten Pinschermischling heute mal nur die kleine Runde, damit dieser seine „Caesar-Premium-Weihnachtspastete“ von gestern ganz unherrschaftlich in die Hocke gehend durch den haarigen royalen Anus pressen kann. Wir sitzen allein im Fenstererker und wollen nirgendwo anders sein.
Wir pusten Jean-Lucs „Earl Grey, Heiß“ über den Tassenrand freundschaftlich zu ,und beobachten das romantisch winterlich-nasse Treiben da draußen, froh darüber, dass die unpassenden Gerüche draußen vor der Thermopenscheibe bleiben und wir mit den synthetischen Glade-Vanillezimt-Elektroduftsteckern in jedem Raum diese herrliche kunstschneebeflockte Sonderpostenmarkt-Atmosphäre ins einsame Wochenende zaubern. Wenn das kein mindestens vierdimensionales virtuelles Erlebnis ist, weiß ich auch nicht.
Wenn allerdings das eingefärbte Schaffell auf dem IKEA-Poäng das einzige Zeugnis organischen Lebens im Umkreis von 20 Metern ist, helfen Duftstecker, Tee und Spannerei nicht weiter, dann wird neue Hoffnung wichtig und selten.
So oder so ähnlich müssen hilfreiche Geister auf die Idee gekommen sein, man könne Weihnachtsfeiern auch online abhalten um einsamen Seelen Trost zu spenden. Aber warum auch nicht? Wagen wir uns an eine geschärfte Betrachtung.
Nur zur Klarstellung : um MICH geht es dabei nicht. Frei nach Sabrina Setlur folge ich dem Stern. Weiter im Text.
Warum lieben die Menschen Weihnachtsfeiern? Gute Frage. Klammern wir zunächst mal aus rational-wissenschaftlichen Gründen die FAMILIENweihnachtsfeiern thematisch vollständig aus.
Denn warum wir so erpicht darauf sind, genau diesen mit uns historisch verknüpften engeren Zirkel an weitestgehend identischem genetischen Humanmaterial ausgerechnet derart unter Stress gesetzt zu verköstigen, bleibt ein Rätsel. Und während die Verwandten permanent die unsere, nun von ihnen okkupierte häusliche Umgebung nach Fehlstellen scannen, , vermag die Frage nach dem „Warum“ ganze wissenschaftliche Fakultäten zu beschäftigen oder unpopuläre ein-staffelige -Netflix-Reihen zu begründen, quasi „Christmas Anatomy“ , je nachdem wie tief man gehen möchte.
Dieser Teil kann daher hier nicht erschöpfend behandelt werden. Fest steht, dass wir alle glauben, die Weihnachtsfeiern anderer Familien liefen harmonisch ab. Und das wollen wir auch. Es ist halt ein Glaubensfest, nicht wahr? Und damit gehört alles, was damit zu tun hat, in die Kirche. So wie die inhaltlich eng verknüpften Themenbereiche „Inquisition“ und „Verdammnis“ .
Bleiben wir also beim weltlichen Bereich. Neben den vereinsmeierischen endjährigen Besäufnisrechtfertigungs-Terminierungen (die nun wirklich gar nichts mit Weihnachten zu tun haben) gibt es da ja auch noch die BETRIEBLICHEN Weihnachtsfeiern. Betrachten wir doch diese volkswirtschaftliche Institution einmal genauer und überprüfen wir mal eben stümperhaft engagiert die digital-virtuelle Umsetzbarkeit, so wie es unzählige gut strukturierte fremdfinanzierte Projektkreise vor uns in vielfältigen Skype-Gruppen so viel besser analysierend schon getan haben. Sei´s drum.
Weihnachtsfeiern sind wichtig. Manche der Kollegen trifft man, sehr zum eigenen Bedauern, das ganz Jahr über nicht, sei es, weil sich Dienstpläne nie überschneiden, der eigene Einsatzort ein ganz anderer als der des Kollegen oder der Kollegin ist oder es sich einfach nicht ergeben hat.
Nicht selten ist es ganz anders herum : Manchmal auch bedurfte es aber doch erheblicher eigener Anstrengung und persönlicher logistischer Offenbarung, um bestimmten Kollegen, deren bloße Mitbenutzung der gleichen räumlich gebundenen Atemluft einen spastischen Würgereiz auszulösen in der Lage ist und deren verbal immer unpassend - unnötige Absonderungen einem die Sterblichkeit eigener Gehirnzellen so plastisch vor Augen führen, nicht doch über den Weg zu laufen.
Beide Ausgangsbetrachtungen fordern es geradezu heraus, einmal im Jahr eine Bestandsaufnahme zu machen um die eigene Position ausreichend empirisch belegt bestätigen zu lassen.
Nun ist es relativ einfach, den UNgeliebten Kollegen virtuell zu begegnen. Über die Splitscreen-Funktion sind alle in der Regel zu sehen, die üblichen abwertenden Attribute lassen sich schnell zuordnen. „Hässlich“, „fett geworden“, „hat aber abgebaut“ und „trinkt bestimmt wieder“ lassen sich zügig feststellen, ohne dass das Umherschweifen des eigenen Blickes im Realraum kompromittierend beobachtet worden wäre. So betrachtet, hat die zunehmende Virtualität auch seine Vorteile. Kommt es im übrigen zu den bekannt unerträglichen Wortbeiträgen der ungeliebten Mitstreiter, lässt sich ja jetzt der Ton runter drehen. Klasse Sache.
Um das virtuelle Erlebnis mit ungeliebten Kolleginnen und Kollegen perfekt zu machen, sollte man vielleicht zur intensiveren Illusionsgestaltung, je nach Verfügbarkeit, noch geruchsmassive, mehrwöchig herangezüchtete Laufsocken-Kulturen mit etwas Knoblauch-Sud im Raum platzieren sowie zur weiteren emotionalen Realisierung der aufgegebenen beruflichen Umgebungsstimmung einige papierene großformatige Katzenbabyfotos und einen Schredder parat halten.
Wer mag, uriniert noch rasch in eine Ecke des homeoffice und verteilt nasse Papiertücher auf dem Boden, um auch gleich die , an französische Autobahn-WCs angelehnte Bürotoilettenatmosphäre abschließend gekonnt ins Stimmungsbild zu integrieren.
Wer sich nun über seine PC-Tastatur übergibt und die nachmittaglichen Zimtsterne als süßliche-breiernen Lückenfüller im QWERTZ wiederfindet, ist in der richtigen Stimmung und kann einen erheblichen Unterschied zu einer realen Weihnachtsfeier sicher nicht mehr feststellen.
Mit den LIEBGEWONNENEN Kolleginnen und Kollegen, die man hoffte, wenigstens einmal im Jahr zu sehen, ist das schon schwieriger. Zu den WIRKLICH wichtigen Kollegen hatte man schließlich auch unterjährig Kontakt. Da ist ein nettes Wort, warmherzig und ehrlich, auch virtuell schnell gewechselt. Eine Umarmung muss natürlich ausbleiben, ein Händedruck ebenso. Zumindest entfällt im Online-Meeting die Maskenpflicht, so dass es ein Leichtes ist, ein herzliches Lächeln auszutauschen und der Kollegin oder dem Kollegen neben Wertschätzung und Aufmerksamkeit auch die nötige Herzlichkeit und Wärme zu geben.
Zur Intensivierung bedarf es hier nicht viel. Vielleicht gießt man sich eine Tasse des erbärmlich müffelnden Yoga-Tees ein, den man der geschätzten Tischnachbarin immer wohlwollend hat durchgehen lassen und genießt die entstehende typische Arbeitsplatzatmosphäre. Oder man platziert alle irgendwann vom Kollegen oder der Kollegin einmal ausgeliehenen und nie zurück gegebenen Büroutensilien wie Locher, Tacker oder Heftklammern um sich herum um in die entstehende Atmosphäre einzutauchen wie in eine Lightversion eines Hardrock-Cafes: überall Devotionalien mit zertifizierter Provenienz in stilechter Umgebung. Ein paar Tannenzweige um den Bildschirm gelegt, sind vervollständigende Option, aber kein Muss.
Nahezu unmöglich ist es jedoch, auch für jene Kolleginnen und Kollegen einen virtuellen Weihnachtsfeierersatz zu finden, die unterjährig die gescheiterten Bindungsversuche der Anderen minutiös verfolgt haben und nun ihrerseits zum Jahresende auf erfolgsversprechendes Waidmannsheil hoffen.
Eine nicht unerhebliche Anzahl von Weihnachtsfeierteilnehmern, genauere belastbare Erhebungen gibt es dazu leider nicht, nutzen offenbar die stark alkoholisierte Feierendphase zur intensiven geschlechtlichen Interaktion. Dabei wird das seltene Aufeinandertreffen dann exzessiv zelebriert und sprichwörtlich zum Höhepunkt.
Zwar könnte man in Corona-Zeiten auch über die Lebenswichtigkeit eines nach dem Akt ausreichend desinfizierten Kopiererglases sicher hinlänglich diskutieren, in den virtuellen Raum übertragen lässt sich das Ganze jedoch nicht. Zumindest lässt es sich nicht über das lang bekannte Medium des Telefonsex hinaus virtuell auf eine Bildschirmkonferenz transferieren, würde eine exzessiv erotische Präsentation der eigenen Handlungen und beteiligter Körpersequenzen vermutlich doch deutliche Irritationen der übrigen passiven Teilnehmer mit sich bringen.
Daher muss sich dieser Ansatz zunächst bereits in der Hoffnung ersticken, es mögen doch bitte alle Meetingteilnehmerinnen und -teilnehmer wenigstens verhüllende Beinkleider tragen, was sicher per se wünschenswert, aber , ohne hier eigene Kenntnisse ins Feld führen zu wollen, nicht immer gegeben sein wird.
Übrigens ist nicht einmal die 364 Tage lang bereute nächtliche Knutscherei in der Raucherecke virtuell vollständig reproduzierbar. YouTube-Hacks mit frischen, entstielten Paprika voller Zigarettenstummel in die man seine Zunge ersatzweise vergraben soll, fanden bislang nur wenig Zuspruch und sind vermutlich nicht empfehlenswert.
So bleibt nur festzuhalten, dass, bei allen technischen Möglichkeiten, die sich uns heute bieten, die heimelige Innigkeit einer Weihnachtsfeier nicht 1:1 in den digitalen virtuellen Raum übertragbar ist. Aber das Engagement all Jener, die ihr Herzblut in Vorbereitung und Organisation stecken, lässt den Geist der Weihnacht doch weithin sichtbar und hell entflammt aufleuchten, unser aller Herz kurzfristig erwärmend wie ein Kakao im Polarexpress an einem verschneiten Wintertag. Und wenn das nichts ist, weiß ich auch nicht.
Frohes Fest!