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Die Tribute von Bad Kandahar - The Hunger Games

Für alle Lesefaulen ist oben links über dem Bild wieder eine "Play"-Taste für den Podcast.

 

Da sind wir wieder. Zeit für ein Statement. Wir haben uns scheinbar wieder aufeinander eingespielt, des Teufels Boot Camp Bad Kandahar und ich. Zur Erinnerung, bzw. für alle interessierten Quereinsteiger : ich befinde mich auf einer unerbittlichen Reha in Ostwestfalen. Und, obwohl ich ein geradezu nur durch Kryptonit zu stoppender Ausbund an Offenheit, Toleranz, Nächstenliebe und Diplomatie bin, stoße ich doch gelegentlich auf, im eigenen Interesse zu überwindende, Widerstände.

Aber sei es drum. Erstens habe ich es mir selbst ausgesucht. Zweitens ist es gut für mich. Und drittens lernt man ja auch täglich dazu. Auch als alter Hund ist doch der eine oder andere neue Trick noch drin. Ich muss es mir nur oft genug selbst einreden.

Ich bin in der dritten Woche und heute ist ein wichtiger Tag. Unmittelbar nach meiner Ankunft, psychisch und physisch angespannt, war ich den für mich neuen Gegebenheiten und Umgebungsfaktoren noch hilflos ausgeliefert. Ein Spielball der Scherkräfte im Paralleluniversum einer Rehabilitationsklinik. Aber wie schon Antonio Banderas in der Rolle des Arabers Ahmad Ibn Fadlan in  "Der 13. Krieger" so schön bemerkte : Ich höre zu. Kennst Du die Regeln, kannst Du das Spiel gewinnen. Ab heute bin ich wieder Gamechanger, fellas.

Wie immer habe ich mir zunächst die sytemrelevanten Abläufe angesehen. Ich habe mir intensiv die örtlichen Gegebenheiten, also die unabänderbaren "ISSO"s der Umgebung  eingeprägt. Habe dominante und zurückhaltende Charaktere ausgemacht und in ihren Handlungssträngen identifiziert. Wiederholende Handlungsabläufe inhaliert, Vorhersehbarkeiten der Protagonisten identifiziert und zugeordnet. Immer wieder verschiedene Szenerienpläne durchgespielt wie vor dem 2.Mai 2011 ein gewisser Obama anlässlich der Operation Neptune Spear.

Jetzt bin ich nicht nur ähnlich anziehend unnahbar, sondern auch ebenso organisatorisch perfekt aufgestellt wie dereinst Danny Ocean auf dem Strip (meine eigene Amal habe ich ja schließlich auch, selbst wenn sie leider nicht hier sein kann) und könnte wahrscheinlich als "Axels One" ein Bad Kandaharaner Stardust seiner wöchentlichen Einnahmen entledigen. Oder waffenfähiges Plutonium ungestraft von ostwestfälischen Libyern stibitzen, um damit meinen DeLorean zu füttern und mit 140 Meilen pro Stunde über die B 64 zu brettern. So in der Art.

 

Aber das ist nicht mein Ziel. Mein Ziel ist heute : das Frühstücksbuffet im Speisesaal, der kohlenhydratbasierte Fight Club für körperlich Beeinträchtigte, das perfekt befrischkräuterte  Weideland, jedoch reserviert nur für das Rindvieh, welches Professor Dr. Henry Jones seniors´ Notizbuch hat, wenn es über die unsichtbare Brücke will. Auch ich scheiterte in den ersten Tagen, doch nicht heute! Der Rookie knackt heute seinen ersten Fall, der unschuldige Junge wird zum Mann. Heute bekomme ich meinen circumcissionslosen Initiationsritus, meine persönliche Äquatortaufe der besonderen Art.

 

Auf geht´s. Ich bin auf meinem Zimmer und überprüfe die verlässliche Schnürung meiner Schuhe. Draußen ist es stockdunkel, die ersten  irritierten Vögel wischen sich verwundert den Schlaf aus den verzwitscherten Augen, ob des unerwartet aktiven Zweibeiners. Ich checke den akuraten Sitz der frisch gewaschenen Jogginghose, des einzig zugelassenen Kleidungsstückes in diesem Haus, zumindest sofern es um situationsflexible Beinkleidung geht. Doch ich kann mich jetzt nicht darum kümmern, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Sorry, Karl.

Jetzt streiche ich mir die Corona Mähne soweit zusammen, dass ich nicht in der Zimmertür feststecke, falte meinen Mund-/Nasenschutz zu einer aerodynamisch optimierten Keilform und betrete den Flur. Es ist zehn vor sieben.

 

Ich überlasse nichts dem Zufall. Um Punkt Sieben öffnet der Speisesaal. Es sind 462 Schritte und ich überwinde 15 Höhenmeter. Fünf Minuten brauche ich durch die langen Gänge, eine für die Treppe, eine weitere bis zum Eingang. Ich werde in der ersten Reihe stehen, wenn das Füllhorn die Schleuse öffnet. Ich hatte mir den Wecker auf 5:45 Uhr gestellt um ausreichend Vorbereitungszeit zu haben, bin erfrischend geduscht, sauber gedressed, einwandfrei gepflegt, motiviert und fit. Meine Beine habe ich mir vorhin zehn Minuten lang mit tibetanischem Yak-Urin massiert und sie durchbluten vorbildlich. Geduscht habe ich mit einem Menthol-Duschgel, weshalb mein Schritt heute motivierend brennt, unterkühlt wie der Kuss einer Inuit zur Mitsommernacht, und läuft heute vermutlich von alleine. Heute überholt mich keiner, denke ich, während ich, eine Wolke ätherischer Öle als Kondensationsstreifen hinter mir her ziehend, im Tiefflug den schier endlosen Gang entlang fliege wie dereinst  Luke Skywalker im finalen Anflug auf der Oberfläche des Todesterns. Denn ich habe Hunger.

 

Heute ist Mittwoch. Perfekt. Gestern kamen die Neuen, sind an diesem Morgen nichts als unwissende, hungrige Opferlämmer nach der ersten ungewissen Nacht von vielen. Geschüttelt und unruhig wie ich einst, ihrer natürlichen Umgebung entrissen, ohne das vertraute Licht welches ihnen sonst die heimischen kühlschränklichen Nächte versüßte, ohne die "für den Fall daß Besuch kommt" angehäuften Nahrungsvorräte, in denen es sich nach Sonnenuntergang so gut baden ließ wie in Onkel Dagoberts Speicher. Sie werden bei ihrem ersten Besuch des Speisesaals behindernd umhertreiben wie Eisschollen auf dem winterlichen Hudson und mir, unbeabsichtigt, die erfahrenen Predatoren heute vom Hals halten.

 

Ich bin tatsächlich ganz vorne, desinfiziere vorbildlich meine Hände und nenne der freundlichen Dame am Eingang zur Kontrolle, dass ich noch am Leben bin, meine Zimmernummer. Das tue ich vor jedem Besuch des Speisesaals und denke mir immer wieder, dass ja wahrscheinlich mindestens EINMAL jemand nicht erschienen sein muss, sonst würden sie das ja nicht machen.

Ob die Putzfrau den Rehabilitanden gefunden hat? Wie er oder sie  wohl gestorben ist? Das Naheliegendste wäre natürlich : verhungert.  Oder vielleicht hat er sich doch einen Bruch gehoben? Denn immer nach Feierabend, wenn die Klinik nur noch in Notbesetzung läuft und unangenehme Fragen eher unwahrscheinlich sind, hört man in den Gängen urig tiefes Grollen, beängstigende Töne und schleifende Schritte, denen jeder Kryptozoologe gern nachgehen würde, wenn tief schnaubende Trainingsanzüge der Kategorie 3XL Plus kiloschwere Lidl-Tüten in die Kemenate schleppen wie dereinst Godzilla in Emmerichs Vision die Fische in seine Höhle unter New York.

Ich könnte ja mal die Nikotinisten fragen, jene Gruppe Unbeirrbarer, die bei Wind und Wetter direkt vor dem Klinikzaun verzweifelt verschlüsselte Rauchzeichen gen Himmel senden, durch die Enigma von Philip Morris gepresste Botschaften, quasi unablässig die eigene Existenz hinterfragend, immer wieder den Schulterschluss mit Gleichgesinnten suchend: "Du auch in der Kardiologischen? Schöner Mist, was? Haste mal Feuer?" . An denen kommt keiner ungesehen vorbei. Zumindest nicht, solange keine Windstille herrscht, denn eine neutral lokale Isobarenlage kann in Bodennähe schon mal zur Doppelinhalation und tränenden Augen führen, wenn man Bad Kandahars Besonderheiten nicht respektiert.

 

Aber dafür habe ich heute keine Zeit. Im Abstand von einem gepflegten Meterfuffzich stehen wir vor der Schiebeflügeltür, die selbst vor Spannung zu zittern scheint. Das Horn der Amaltheia ist zum Greifen nah. Ich spüre die Blicke meiner Nahrungskonkurrenten kleine Löcher in meinen Rücken brennen. Gleich werden sich die Tore öffnen.  Durch die Ritzen kann ich bereits frische Brötchen riechen, meine Finger bereiten sich auf das klebrige Gefühl herrlich duftenden Honigs vor. mein Gaumen erwartet frischen heißen Kaffee.

Behäbig und zäh wie die Halsmuskeln der alten Morla klickt der Zeiger der Wanduhr einen Teilstrich weiter. Ich kneife die Augen zusammen, spanne die Waden an und bringe meine Lehne in eine aufrechte Position. Heute wird es klappen. Heute stehe ich vorne. Und, wie gesagt : ich habe Hunger.